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Göbel, Heinrich
Wandteppiche (I. Teil, Band 1): Die Niederlande — Leipzig, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.12244#0181
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Deutung

wird auf Maria, die reine Gottesmutter, übertragen, die den Heiland — das Einhorn —
in unbeflecktem Schöße empfängt. Der Jäger wird zum Erzengel Gabriel, der der
Magd Gottes die Verkündigung überbringt und freudig ins Horn stößt. Ihm folgen
seine Jagdhunde, gewöhnlich in der Yierzahl. Die Namen wechseln; in der Regel ist
Justitia der Fang-, Caritas der Hetz-, Spes der Spür- und Fides der Leithund; bisweilen
bilden auch Veritas, Pax, Justitia und Misericordia die Meute.

Das Motiv wird mit besonderer Vorliebe in deutschen Teppichen verwertet.

Das Gabrielsymbol erfährt in den flämisch-nordfranzösischen Landen mannigfache
Umdeutung. Es wird vom Einhorn und der Gottesmutter unabhängig. Die allegorische
Meute wird Selbstzweck; es entsteht eine in das jagdliche Gebiet übertragene Parallele
des Homomotivs; der Erdenpilger wird zum gehetzten Hirsch. Die Handlung spielt
sich in allen Einzelheiten durchaus weidgerecht ab.

Im Besitze des Herrn de Kermaingant befindet sich eine Folge, die etwa dem dritten
Dezennium des 16. Jahrhunderts angehört (138).

Herrin Nature sendet ihre Hündin Jeunesse aus. Der Hirsch, die Personifikation des
Menschen, springt fröhlich im Grün des Waldes. In der zweiten Szene wird die An-
gelegenheit schon kritischer. Die aus den Moralitäten sattsam bekannten Damen Ignorance
und Vanit6 erscheinen auf der Bildfläche. Die Meute Oultrecuidance (Übermut), Haste
(Eile) und Vouloir (Wunsch) setzt dem Hirsch scharf zu. Die Episode verkörpert das
Mannesalter mit den schädigenden Einflüssen, die an seiner Kraft zehren. Die alte
Vieillesse humpelt mühsam an Gehstöcken; ihre Hunde Aage, Doubtance, Pesanteur,
Ennuy, Soucy, Chault, Froit und Peine sind um so flinker. Dem Hirsch hängt die
Zunge aus dem Halse, er bricht zusammen. Maladie gibt ihm den Fangstoß, der Tod
bläst Hallali.

Verse erläutern den ohnehin leicht verständlichen Gedankengang und schließen mit
der Moral:

„Gens de briefve duree mondaine
Qu(i a) chasse mortelle et soubdaine
Es(tes) comme cerf asservis
Considerez la vie humaine
Et la fin ou eile vous maine
Et les metz dont serez servis,
A b(ien?) que serez desservis
De Jeunesse et aurez adviz
Advisez ä tel propos prendre
Que quant serez de mort ravis,
Et les vers seront au corps vifz
Que puissions ä Dieu l'äme rendre".

Man sieht von dem hohen Schwünge des Homomotivs ist nicht allzuviel übrig ge-
blieben. Das Menschenleben wird recht prosaisch aufgefaßt; das Jenseits mit einer Zeile
abgetan.

In ähnlicher Weise verarbeitet ein Bildteppich aus der Sammlung Charles Andre"
(Abb. 94) den Stoff. Dame Unwissenheit (ignoranche) und Herrin Eitelkeit (vanitö)
haben ihre Meute, die Hunde Übermut, Hast und Wunsch auf den den Menschen sym-
bolisierenden Hirsch (cerf fragile) losgelassen. «Les chiens qui tenoit accouples dedans
le bois; dame ignoranche apres le cerf a descouplez. . . ,a Sollte ein Teppich aus dem
Nachlasse des Florimond Robertet (1532) mit dem besprochenen Stücke nicht nahe
verwandt sein? Das Inventar spricht von einem Behänge „Le cerf fragille de S. Augustin".
Wahrscheinlich schließt dieser eigenartige Typ sich einem schon zu Beginn des 15. Jahr-
hunderts beliebten Motive an. Es sei nur kurz auf die 1420 erwähnte Folge «L'Histoire
de la Jeunesse et Döduit, appelöe la chasse du cerf* verwiesen.

Die Bedeutung der Vergerteppiche für die Bildwirkerei des 15. Säkulums fand in
dem ersten Abschnitte bereits flüchtige Berücksichtigung.

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