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Görling, Adolph; Woltmann, Alfred [Oth.]; Meyer, Bruno [Oth.]
Deutschlands Kunstschätze: eine Sammlung der hervorragendsten Bilder der Berliner, Dresdner, Münchner, Wiener, Casseler und Braunschweiger Galerien : eine Reihe von Porträts der bedeutendsten Meister (Band 2) — Leipzig: Verlag von A.H. Payne, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.62335#0229
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Lionardo da Vinci.
Die gesammte Kunst des XV. Jahrhunderts bietet den Charakter des Suchenden dar. Alle
ihre Hervorbringungen tragen in Gutem uud Schlimmem den Stempel der losgebundeneu Indivi-
dualität, des rechten Wahrzeichens der Renaissance. All' dieses Suchen und Streben abzu-
schließen, die getrennten Richtungen des neuen Geisteslebens in sich zu vereiuigen, die Anfänge der
Renaissance zum Ziele zu bringen und die volle Blüthezeit derselben zu beginnen, war ein Mann,
einer der wunderbarsten Menschen, die je gelebt, unbedingt der größte Künstlergeist des XV. Jahr-
hunderts berufen, Lionardo da Vinci. Er war für die Kunst seines Zeitalters, was Lessing
sür die deutsche Literatur des vorigen Jahrhunderts war, „zugleich der Schöpfer und das Bild der
Regel"; der letzte der Kämpfer, der mit im Opfertode brechendem Blick den glänzenden Sieg er-
rungen sah. Die angedeutete Parallele, die sich in ausgiebiger und anziehender Weise bis in
Einzelheiten hinein durchführen ließe, ist wunderbar schlagend. So gedankenhaft klar sich ent-
wickelnde Epochen, wie das XV. und das XVIII. Jahrhundert, müssen wohl ähnliche Höhe- und
Wendepunkte erleben und verwandte Naturen auf denselben hervorbringen.
Lionardo wurde im Jahre 1452 zu Vinci, einer kleinen Feste im Arnothal, zum Gebiet
der Stadt Florenz gehörig, geboren. Er war der natürliche Sohn eines Notars der florentiner
Regierung, Messer Piero, damals erst 23 Jahre alt, und einer unbekannten Mutter Namens
Catarina. Der Vater scheint den Sprößling schon in früher Jugend legitimirt zu Haben;
derfelbe wurde dann gemeinschaftlich mit eilf rechtmäßigen Söhnen des Ser Piero, die aus
drei Eheu entsprossen waren, im väterlichen Hause erzogen. Es dauerte uicht lange, so ließen
sich jene unglaublichen Anlagen bei ihm erkennen, durch die er in dem Jahrhundert der großen
und vielseitigen Ingenien der größte und vielseitigste Geist werden sollte. Denn alle vor
ihm aufgetretenen bahnbrechenden Meister ließ er an umfassenden Fähigkeiten nnd Kenntnissen
weit zurück, und, um mit Waagen's Worten den Umfang feiner Begabung zufammenzu-
fasfen, es dürfte in der That schwer halten, in der ganzen Geschichte eine zweite Persönlichkeit
aufzusinden, welche von der Natur in so verschwenderischer Fülle mit den herrlichsten Gaben des
Körpers und des Geistes ausgestattet worden, wie Lionardo. Zu einer seltenen Schönheit der
Gesichtszüge, von welcher noch die von ihm vorhandenen Bildnisse Zeugniß geben, gesellte sich bei
ihm ein Körper von stattlichem Wuchs uud dem schönsten Ebenmaß der Glieder. Dabei war er
in allen Leibesübungen höchst geschickt, namentlich ein kunstgerechter und gewandter Reiter, ein vor-
trefflicher Fechtmeister und ein vollendeter Tänzer. Außerdem besaß er eine so gewaltige Leibes-
stärke, daß er ein Hufeisen zusammenfalten, den Klöpfel einer großen Glocke zusammendrehen und
das muthigste Pferd im vollen Lauf aufhalteu konute. In der Kunst beherrschte er mit der sel-
tensten Meisterschaft die Gebiete der Malerei, der Bildhauerei, der Baukunst, und — wenigstens
als ausübender Kunstler — der Musik, wie er denn durch seiu Lauteuspiel und seinen Gesang alle
Welt bezauberte. Auch als Dichter versuchte er sich gelegentlich. Im Reimen aus dem Steg-
reif aber that es ihm keiner seiner Zeitgenossen in Italien gleich. Auch als Kupferstecher hat

Deutschlands Kunstschätze II.

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