12 Avustler-Aiographitn.
Die lange Tafel durchzieht quer das ganze Bild, nur je eine der Figuren befindet sich an jedem
Ende derselben ganz sichtbar, die anderen sitzen dahinter. Auch das ist von Bortheil, es beseitigt
unmerkbar eine Ueberlast von bedeutungslosen Theilen: „Jeder sittliche Ausdruck gehört nur dem
obern Theil des Körpers an, und die Füße sind in solchen Fällen überall im Wege." (Goethe.)
Christus in der Mitte mit dem leicht geneigten Hanpte, es ist, als hörte man ihn sprechen, und als
sähe man das Beben der schmerzlichen Erregung an seinen Lippen; doch er überwindet mit göttlicher
Fassung. Das Wort ist dem Munde entflohen, und nun tönt es wieder und wirkt in den Seelen
und Körpern seiner Getreuen. Sie schließen sich in gleichmäßiger Vertheilung an ihn zu beiden
Seiten, je in zwei Gruppen zu Dreien getrennt; jede Gruppe in sich eine wundervolle Abstufung,
eine abgeschlossene Einheit von Satz, Gegensatz und Vermittelung repräsentirend, und doch in deut-
lichen und natürlichen Bezügen mit der nächsten Grnppe und mit dem Centrum des Ganzen in
Beziehung gesetzt. Das sind lauter Individualitäten, lauter Charaktere; das ist Empfindung, un-
willkürliche Action. Da ist nichts von kühler Berechnung, nichts von Lückenbüßerei, Alles voll und
ganz, durchaus getragen von einem Geiste, dem Geist des Wortes, das von jenen Lippen geflossen.
„In der ganzen Anordnung, den Linien des Tisches und des Gemaches, ist Lionardo absichtlich
so symmetrisch wie seine Vorgänger; er überbietet sie durch die höhere Architektonik seines Ganzen.
— Das aber ist das Göttliche an diesem Werke, daß das auf alle Weise Beoingte als ein völlig
Unbedingtes und Nothwendiges erscheint. Ein ganz gewaltiger Geist hat hier alle seine Schätze vor
uns anfgethan und jegliche Stufe des Ausdruckes und der leiblichen Bildung in wunderbar abge-
wogenen Gegensätzen zu einer Harmonie vereinigt. Welch' ein Geschlecht von Menschen ist dies!
Vom Erhabensten bis in's Befangene, Vorbilder aller Männlichkeit, erstgeborene Söhne der vollen-
deten Kunst. Und wiederum von der blos malerischen Seite ist Alles neu und gewaltig, Gewand-
motive, Verkürzungen, Contraste. Ja, sieht man blos auf die Hände, so ist es, als Hätte alle Ma-
lerei vorher im Traume gelegen, und wäre nun erst erwacht." (Jacob Burckhardt.) „Dies" (die
Bewegung der Hände), sagt Goethe, „konnte aber auch nur ein Jtaliäner finden. Bei seiner Na-
tion ist der ganze Körper geistreich, alle Glieder nehmen Theil an jedem Ausdruck des Gefühls,
der Leidenschaft, ja des Gedankens. Einer solchen Nationaleigenschaft mußte der alles Cha-
rakteristische höchst aufmerksam betrachtende Lionardo sein forschendes Auge besonders zuwenden;
hieran ist das gegenwärtige Bild einzig, und man kann ihm nicht genug Betrachtung widmen."
Fragen wir uns, wodurch lebt Lionardo im Gedächtniß der Menschheit, weshalb ist sein Name
auf Aller Zungen? — auf dies eine Werk müssen wir Hinweisen, sowie Holbein in der allgemeinen Vor-
stellung als der Meister der Madonna mit der Familie des Bürgermeisters Meyer fortlebt. Dies
eine erhaltene und bekannt gebliebene Hauptwerk hat den Ruhm uutergegangener oder abgelegener
und minder bedeutender aufgesogen; es war genug, seinem Schöpfer die Unsterblichkeit zu sichern.
Doch von einem erhaltenen Werke kann hier bei Lionardo leider eigentlich kaum die Rede
sein. Die Geschichte dieses unsterblichen Werkes, das körperlich doch der Vergänglichkeit hat seinen
Zoll bezahlen müssen, ist fast noch tragischer, als die Katastrophe der Reiterstatue. Es war voll-
endet aus des Meisters Hand Hervorgegangen, vollendet in des Wortes allerverwegenster Bedeutung.
Doch all' sein Leben war ein langsames Sterben. Das Bedürfniß sorgfältigerer Ausführung, als
die Frescotechnik gestattet, verführte Lionardo auch hier wieder, mit Oelsarben auf die Mauer zu
malen. Das verbindet sich nicht mit einander und blättert also ab. Doch noch nicht genug. Die
Die lange Tafel durchzieht quer das ganze Bild, nur je eine der Figuren befindet sich an jedem
Ende derselben ganz sichtbar, die anderen sitzen dahinter. Auch das ist von Bortheil, es beseitigt
unmerkbar eine Ueberlast von bedeutungslosen Theilen: „Jeder sittliche Ausdruck gehört nur dem
obern Theil des Körpers an, und die Füße sind in solchen Fällen überall im Wege." (Goethe.)
Christus in der Mitte mit dem leicht geneigten Hanpte, es ist, als hörte man ihn sprechen, und als
sähe man das Beben der schmerzlichen Erregung an seinen Lippen; doch er überwindet mit göttlicher
Fassung. Das Wort ist dem Munde entflohen, und nun tönt es wieder und wirkt in den Seelen
und Körpern seiner Getreuen. Sie schließen sich in gleichmäßiger Vertheilung an ihn zu beiden
Seiten, je in zwei Gruppen zu Dreien getrennt; jede Gruppe in sich eine wundervolle Abstufung,
eine abgeschlossene Einheit von Satz, Gegensatz und Vermittelung repräsentirend, und doch in deut-
lichen und natürlichen Bezügen mit der nächsten Grnppe und mit dem Centrum des Ganzen in
Beziehung gesetzt. Das sind lauter Individualitäten, lauter Charaktere; das ist Empfindung, un-
willkürliche Action. Da ist nichts von kühler Berechnung, nichts von Lückenbüßerei, Alles voll und
ganz, durchaus getragen von einem Geiste, dem Geist des Wortes, das von jenen Lippen geflossen.
„In der ganzen Anordnung, den Linien des Tisches und des Gemaches, ist Lionardo absichtlich
so symmetrisch wie seine Vorgänger; er überbietet sie durch die höhere Architektonik seines Ganzen.
— Das aber ist das Göttliche an diesem Werke, daß das auf alle Weise Beoingte als ein völlig
Unbedingtes und Nothwendiges erscheint. Ein ganz gewaltiger Geist hat hier alle seine Schätze vor
uns anfgethan und jegliche Stufe des Ausdruckes und der leiblichen Bildung in wunderbar abge-
wogenen Gegensätzen zu einer Harmonie vereinigt. Welch' ein Geschlecht von Menschen ist dies!
Vom Erhabensten bis in's Befangene, Vorbilder aller Männlichkeit, erstgeborene Söhne der vollen-
deten Kunst. Und wiederum von der blos malerischen Seite ist Alles neu und gewaltig, Gewand-
motive, Verkürzungen, Contraste. Ja, sieht man blos auf die Hände, so ist es, als Hätte alle Ma-
lerei vorher im Traume gelegen, und wäre nun erst erwacht." (Jacob Burckhardt.) „Dies" (die
Bewegung der Hände), sagt Goethe, „konnte aber auch nur ein Jtaliäner finden. Bei seiner Na-
tion ist der ganze Körper geistreich, alle Glieder nehmen Theil an jedem Ausdruck des Gefühls,
der Leidenschaft, ja des Gedankens. Einer solchen Nationaleigenschaft mußte der alles Cha-
rakteristische höchst aufmerksam betrachtende Lionardo sein forschendes Auge besonders zuwenden;
hieran ist das gegenwärtige Bild einzig, und man kann ihm nicht genug Betrachtung widmen."
Fragen wir uns, wodurch lebt Lionardo im Gedächtniß der Menschheit, weshalb ist sein Name
auf Aller Zungen? — auf dies eine Werk müssen wir Hinweisen, sowie Holbein in der allgemeinen Vor-
stellung als der Meister der Madonna mit der Familie des Bürgermeisters Meyer fortlebt. Dies
eine erhaltene und bekannt gebliebene Hauptwerk hat den Ruhm uutergegangener oder abgelegener
und minder bedeutender aufgesogen; es war genug, seinem Schöpfer die Unsterblichkeit zu sichern.
Doch von einem erhaltenen Werke kann hier bei Lionardo leider eigentlich kaum die Rede
sein. Die Geschichte dieses unsterblichen Werkes, das körperlich doch der Vergänglichkeit hat seinen
Zoll bezahlen müssen, ist fast noch tragischer, als die Katastrophe der Reiterstatue. Es war voll-
endet aus des Meisters Hand Hervorgegangen, vollendet in des Wortes allerverwegenster Bedeutung.
Doch all' sein Leben war ein langsames Sterben. Das Bedürfniß sorgfältigerer Ausführung, als
die Frescotechnik gestattet, verführte Lionardo auch hier wieder, mit Oelsarben auf die Mauer zu
malen. Das verbindet sich nicht mit einander und blättert also ab. Doch noch nicht genug. Die