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Grautoff, Otto; Rodin, Auguste [Ill.]
Rodin — Künstler-Monographien, Band 93: Bielefeld, Leipzig: Verlag von Velhagen & Klasing, 1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.55313#0011
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Auguste Rodin.

keinem andern Lande wird mehr über Kunst philosophiert und theo-
retisiert wie in Deutschland. Der deutsche Ernst, die deutsche Gründ-
lichkeit, die deutsche Sehnsucht und der Wille, der Kunst so nahe wie
möglich zu kommen, sie in ihrer ganzen Weite, in ihrer ganzen Tiefe
zu erfassen, sprechen sich in dieser umfangreichen deutschen Kunstliteratur aus.
Und doch ist Deutschland nicht das Land, in dem das konkrete Verständnis des
Schönen am verbreitetsten und am höchsten entwickelt ist. Auch das beweist diese
Kunstliteratur, die niemals diesen Umfang hätte annehmen können, wenn der
Kunsttrieb der Deutschen analog den niederen Trieben, durch die die Erhaltung
des tellurischen Daseins bedungen ist, stark und unmittelbar aus dem germanischen
Rassenempfinden hervorgegangen wäre, wie es zu Zeiten einer hohen Kultur, in
der Gotik und in der Renaissance der Fall gewesen ist.
Als im achtzehnten Jahrhundert Preußen und im neunzehnten Jahrhundert
Deutschland sich von neuem zu Macht, Größe und Reichtum entfaltete, hatte es den
Zusammenhang mit seiner Vorgeschichte verloren; man ging in die Irre und suchte,
wo es anzuknüpfen galt. Winckelmann und Lessing traten auf; ihre von reiner Be-
geisterung getragenen Kunstschriften gaben wenigstens ein Ziel, eine Richtung an;
aber sie waren doch trotz aller guten Intentionen zu sehr spekulative Philosophie,
Programm- und Tendenzschriften, zu doktrinär, um Kunstempfindung zu verbreiten.
Sie verbreiteten Kunstrhetorik; sie lehrten die Deutschen des neunzehnten Jahr-
hunderts früher über Kunst sprechen als sie selbst wieder eine Kunst hatten, die
Ausdruck des deutschen Rassenempfindens war. Was hat die Kunst der Cornelius,
Dannecker, Schwanthaler, Wagmüller mit dem deutschen Nassenempfinden des
neunzehnten Jahrhunderts zu tun? Sie ist der Niederschlag einer vagen Sehn-
sucht, der Niederschlag archäologischer Kunsttheorien. Alles Theoretisieren in der
Kunst steht dem unmittelbaren Erfassen der Sinne entgegen; es bedeutet einen
schweren Druck abstrakter Gedanken, der die Sinne verwirrt, das schlichte Erkennen
und Erleben behindert und jene Art von Begriffs- und Wertunsauberkeiten erzeugt,
die schon Friedrich Nietzsche zum Zorne reizte. Auf uns Spätgeborene alle drücken
die Geschicke und Geschichten von vielen Jahrhunderten; aber wir Deutsche sind
außerdem noch in ein besonderes Zieh von Theorien verstrickt, aus dem heraus
wir so schwer uns losringen zur Reinheit der Instinkte, zu einem klaren Blick
ins Freie und Weite. England, Italien und Frankreich standen am Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts als Länder mit geschlossenen Kulturen da; Deutsch-
land war zerklüftet. Statt langsam die Kultur und die bildenden Künste reifen
zu lassen, versuchten Deutsche dieses Wachstum zu beschleunigen, indem sie Regeln,
Gesetze und Theorien aufstellten, die aus der Reflexion und nicht aus der An-
schauung hervorgingen. Ich rede nicht von mehr oder minder geringen Miß-
verständnissen in manchen unsrer kunsttheoretischen Schriften, sondern von dem wesent-
licheren Grundübel, daß unsere Kunstschriften zu häufig das Interesse auf das Stoff-
liche in der bildenden Kunst lenken auf Kosten der sinnlich zu erfassenden Erscheinungs-
formen. Das kann nicht erstaunen in einem Lande, dessen geistige Kräfte sich so
außerordentlich auf die Literatur konzentrieren. Dadurch entstand der Irrtum
so mancher Deutscher, die Gemüt mit Sentimentalität verwechseln, daß in der
bildenden Kunst nur in der stofflichen Erfindung und Ausgestaltung seelische Werte,
Gemüt und Phantasie zu geben und zu erkennen sind, daß der Aufbau und die
Behandlung der Form nur Technik sind. Künstler, die Leitsätzen dieser Art Ge-
folgschaft leisteten oder leisten, übersetzen Kunst in Nichtkunst, indem sie statt ge-
sehener, erlebter Formen Begriffe darstellen; statt des Vergnügens an der Schön-
heit der Formen bieten sie scherzhafte, humorige oder theatralisch ausladende
Darstellungen, Präparate irgendwelcher literarischer Ideen in Stein. Seit den

 
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