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Grautoff, Otto; Rodin, Auguste [Ill.]
Rodin — Künstler-Monographien, Band 93: Bielefeld, Leipzig: Verlag von Velhagen & Klasing, 1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.55313#0012
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Zeiten der Gotik und Renaissance, in
denen die Skulptur im edelsten Sinne
Glied der Architektur war, ist in Deutsch-
land in der Plastik nicht Überragendes
geleistet worden. Einige Talente kamen
und gingen zwar; aber sie geben uns
nicht das Recht, während irgendeiner
Zeit von einer Blüte der Plastik zu
sprechen. Und mit dem Mangel an
Bildhauern von überragender Größe
geht Hand in Hand ein geringes Inter-
esse, ein schwach entwickelter Sinn für
die Werke der Skulptur. Sind die der
Bildhauerkunst eingeräumten Museen
in Deutschland nicht immer um zwei
Drittel weniger besucht als die Ge-
mäldegalerien, sind die Skulpturensäle
in unfern Ausstellungen nicht ebenfalls
immer die, welche die Deutschen flüchtig
durchhasten?
Anders ist das in Italien und
Frankreich. Das liegt einmal in klima-
tischen Verhältnissen begründet, weiter
in dem gesamten Rassenempfinden die-
ser südlichen Nationen, in ihrem Form-
gefühl, ihrem Sinn für lebendige Gesten
und Gebärden; weiter darin, daß die
Entwicklung der Kunst in diesen Län-
dern nicht zerklüftet ist, niemals so lang
andauernd zerrissen und unterbrochen wurde wie in Deutschland. Man hat die
französische Kunst lange Zeit unterschätzt, ihr die originale und führende Stellung,
die ihr gebührt, nicht einräumen wollen. Der glücklichen Entwicklung des Landes
und der großzügigen Art seiner Herrscher ist es zu danken, daß das Volk sich
durch alle Jahrhunderte hindurch in ungebundener Freiheit entwickelte, seine In-
stinkte immer rein und klar hielt. Man wird sofort verstehen, worauf ich anspiele,
wenn man das Verhältnis der Franzosen zur Antike durch den Lauf der Jahr-
hunderte verfolgt.
In Deutschland ist von den bildenden Künstlern die Antike mehrfach miß-
verstanden worden. In verschiedenen Epochen haben die Deutschen sich einer
sklavischen Nachahmung der antiken Formenwelt, einer Rekonstruktion ihrer be-
grifflichen Ideale schuldig gemacht. Weiß Gott, woran das lag; vielleicht daran,
daß die Antike verschiedene Male auf Umwegen über Italien und Frankreich
nach Deutschland gelangte, weil die Deutschen mehrfach aus zweiter Hand schöpften.
Die großen Ansätze zu einer nationaldeutschen Kunst in Naumburg, Bamberg und
Nürnberg traten vereinzelt auf und wurden nicht fortgesetzt, versandeten wieder
Wie anders entwickelte sich die Kunst in Italien und Frankreich; auf einer
breiten Bahn schließt sich Glied an Glied, logisch, fest aneinandergefügt. Schon
in den mittelalterlichen Skulpturen der Kathedralen von St. Trophime und
Ehartres zeigt sich die gesunde Basis, auf der die französische Kunst steht, indem
sich in den Figuren aus dem römischen Typus langsam der gallische Typus heraus-
entwickelt. Die keltische und lateinische Nassenmischung in Frankreich kommt frühe
schon in der französischen Gotik zum Ausdruck, die in der Jsle de France
der erste, neue, nationale Kunstausdruck seit der Antike wird. Es ist
uns erlaubt die Gotik neben die Antike zu setzen, weil die Gotik auf einer dem

Abb. 2. Der Mann mit der zerbrochenen Nase.
(Zu Seite 1ü n. 14.)
 
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