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Rosen, Hermann von [Editor]; Engelhardt, W. von [Editor]; Grautoff, Otto [Editor]
Ostsee und Ostland (Band 1,1): Stadt und Land — Berlin-Charlottenburg: Felix Lehmann Verlag G.m.b.H., 1916

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https://doi.org/10.11588/diglit.53364#0010
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VIII

ebenſo an den großen Verkehrsſtraßen, die das Land durchziehen. Ihr
ſehr weitmaſchiges Netz laͤßt aber ausgedehnte Landſtrecken uͤbrig, in
denen die Natur faſt ausſchließlich den Landſchaftscharakter beftimmt.
In lang hingezogenen Waldbildern erinnern nur ſelten eine einſame
Buſchwaͤchterei, die Wohnung des Waldhuͤters mit ihrem eingefriedigten
Obſt⸗ und Gemuͤſeland oder gexadlinige Schneiſen und Abzugsgraͤben
an die Hand des Menſchen. Uber Moraſt und Heideland gleitet das
Auge oft bis in die blaue Ferne des Horizonts, wo nur der Kirchturm
einer Landkirche oder im Vordergrund auf graſig blumiger Wieſeninſel
eine behaͤbige, ſtrohgedeckte Heuſcheune die Spur des Menſchen verraͤt.
Aber auch die weitraͤumigen, fruchtbaren Gegenden, wo ſich wohlbeſtellte
Ackerflaͤchen geradlinig aneinander reihen, und hin und wieder von
einer knorrigen Kieferngruppe oder einzeln ſtehenden uralten Eichen
maleriſch unterbrochen werden, wo auf Weideland mit ſteinigem Boden,
zwiſchen Wacholder- und Weißerlengebuͤſch Kuͤhe und Schafe von
Bauernjungen aus dem nahen Gehoͤft gehuͤtet werden, da empfindet
man die menſchliche Nutzung des Landes nicht als eine Vergewaltigung
der Natur. Menſch und Natur ſcheinen hier ganz aufeinander an—
gewieſen zu ſein und miteinander in friedlichem Freundſchaftsverhaͤltnis
zu leben. Die Haͤuſer und Wirtſchaftsſchuppen, die Brunnen, Zaͤune,
Bruͤcken haben ihren Bauſtoff der naͤchſten Umgebung entnommen;
die Bauart, auch die Kleidung iſt der oͤrtlichen Eigenart des Klimas
gemaͤß, Wohnungseinrichtung und Hausrat ſind der uͤberlieferten Lebens—
gewohnheit der Bewohner entſprungen — und ſo ſind hier bodenſtaͤndige
Grundformen geworden. Dieſe Bodenſtaͤndigkeit menſchlichen Schaffens,
die man an vielen Stellen Deutſchlands ſchmerzlich wieder zuruͤckerſehnt
und durch Heimatſchutzbeſtrebungen wieder zu beleben eifrig ſich bemuͤht,
verliert ihre Daſeinsmoͤglichkeit dort, wo die Eiſenbahuverbindungen
eines Landes ſo zahlreich ſind, daß fremde Bauſtoffe aller Art uͤberall
hin geliefert werden koͤnnen und die bodenſtaͤndigen verdraͤngen. Solch
ein Vorwaͤrtsdraͤngen einer Allerweltsziviliſation, das in einiger Hinſicht
wohl erwuͤnſcht ſein mag, aͤndert aber erfahrungsgemaͤß den beſonderen
Charakter der Einwohner und die Eigenart der Landſchaft mit den
menſchlichen Siedelungen. Ein Menſchenauge, das noch ohne die
Allerweltsbrille ſeine Umgebung zu betrachten vermag, empfindet es mit
Wehmut, wenn der feine Inſtinkt fuͤr liebevolle heimatliche Form—
gebung und Lebensgeſtaltung zermalmt wird vom Kraͤmergeiſt, der auf
dem Schienenſtrang erfolgreiche Eroberungszuͤge macht. Im Laufe


 
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