IX
der letzten Jahrzehnte iſt auch das Baltenland von dieſer unerfreu—
lichen Wandlung nicht verſchont geblieben. Wer das Land auf einer
Fahrt uͤber Mitau, Riga und Dorpat bis nach Reval vom Eiſenbahn—
fenſter aus glaubt kennen lernen zu koͤnnen, wird daher nur zum
kleinſten Teil das beſtaͤtigt finden, was vorhin von der Schoͤnheit
und Mannigfaltigkeit der baltiſchen Landſchaft angedeutet wurde.
Wagenfahrten und Fußwanderungen fuͤhren. ſicherer zu den wirklichen
„Schenswuͤrdigkeiten“ des Landes, und wer Augen hat zu ſehen, findet
ſie leicht.
Wer von der alten hochgebauten Hanſeſtadt Reval die eſt—
laͤndiſche Kuͤſte entlang wandert, dem bieten ſich, je weiter er nach
Oſten geht, um ſo ausgepraͤgtere Bilder dieſes eigenartigen, fuͤr den
Geologen uͤberaus intereſſanten Uferſtrichs. Er betritt dort die uraͤlteſten
Schichten der Erdrinde, die kambriſche und ſiluriſche Formation, die
efwa 100 M tief auf vuͤlkaniſchem Urgeſtein ruhen, das dem gegenuͤber—
liegenden Finnland ſein hartes, ſtilles, aber reizvoll herbes Gepraͤge
gibt. Inder Gegend der eſtlaͤndiſchen Badeorte Ontika, Udrias,
Merreküll wird das Strandbild durch den bis CO M ſteil abfallenden
Kalkfels, den ſogenannten „Glint“, ſtark beherrſcht. Schroff gelagerte
Felsſchichten, reich an Verſteinerungen, begleiten dort die Kuͤſten und
ragen oft mit Truͤmmern ihrer maͤchtigen Platten bis in die Meeres—
braͤndung hinein; und wo ſie vom Uferrand einige hundert Meter zu—
ruͤcktreten, da legt ſich flacher Sandſtrand dazwiſchen, oft uͤberſaͤt von
zahlreichen granitnen Findlingen, die die Eiszeit von Finnland heruͤber—
braͤchte. Maͤchtige Gruppen ſolcher Bloͤcke, nicht ſelten drei, vier und
mehr Meter hoch, lagern mit unzaͤhligen kleineren zuſammen wie Herden
von maſſigen Seeungeheuern. Ihre dunklen glattgerundeten Silhouetten
wirken beſonders ſchoͤn im horizontalen Linienwerk des Strandbildes
an Herbſtabenden, kurz vordem die Sonnenſcheibe in das Meer taucht
und ihr letztes Licht das getuͤrmte Gewoͤlk in herrlichſter Farbenzartheit
erſtrahlen laͤßt. Wo der Glint weiter in das Land zuruͤcktritt, Da
zieht ſich in die Duͤnentaͤler feuchter Miſchwald hinein. Bunteſter
Biumenkeichtum auf ſonnigen Lichtungen und eine beſonders mannig—
faltige Schmetterlingsfaung uͤberraſcht hier das Auge des Naturfreundes.
In bruchartigen Niederungen ſtehen lichte Aspenhaine mit ihrem
unruhigen Laubwerk in raſchelndem Schilfrohr. Auf trockenen Duͤnen—
hoͤhen iſt der Boden mit Heide, Preißelbeeren und der weißen Renn—
lierflechte bedeckt und kerzengrade Kiefern und Birken rahmen als Saͤulen
Baltiſche Provinzen I. Stadt. und Land.
$
der letzten Jahrzehnte iſt auch das Baltenland von dieſer unerfreu—
lichen Wandlung nicht verſchont geblieben. Wer das Land auf einer
Fahrt uͤber Mitau, Riga und Dorpat bis nach Reval vom Eiſenbahn—
fenſter aus glaubt kennen lernen zu koͤnnen, wird daher nur zum
kleinſten Teil das beſtaͤtigt finden, was vorhin von der Schoͤnheit
und Mannigfaltigkeit der baltiſchen Landſchaft angedeutet wurde.
Wagenfahrten und Fußwanderungen fuͤhren. ſicherer zu den wirklichen
„Schenswuͤrdigkeiten“ des Landes, und wer Augen hat zu ſehen, findet
ſie leicht.
Wer von der alten hochgebauten Hanſeſtadt Reval die eſt—
laͤndiſche Kuͤſte entlang wandert, dem bieten ſich, je weiter er nach
Oſten geht, um ſo ausgepraͤgtere Bilder dieſes eigenartigen, fuͤr den
Geologen uͤberaus intereſſanten Uferſtrichs. Er betritt dort die uraͤlteſten
Schichten der Erdrinde, die kambriſche und ſiluriſche Formation, die
efwa 100 M tief auf vuͤlkaniſchem Urgeſtein ruhen, das dem gegenuͤber—
liegenden Finnland ſein hartes, ſtilles, aber reizvoll herbes Gepraͤge
gibt. Inder Gegend der eſtlaͤndiſchen Badeorte Ontika, Udrias,
Merreküll wird das Strandbild durch den bis CO M ſteil abfallenden
Kalkfels, den ſogenannten „Glint“, ſtark beherrſcht. Schroff gelagerte
Felsſchichten, reich an Verſteinerungen, begleiten dort die Kuͤſten und
ragen oft mit Truͤmmern ihrer maͤchtigen Platten bis in die Meeres—
braͤndung hinein; und wo ſie vom Uferrand einige hundert Meter zu—
ruͤcktreten, da legt ſich flacher Sandſtrand dazwiſchen, oft uͤberſaͤt von
zahlreichen granitnen Findlingen, die die Eiszeit von Finnland heruͤber—
braͤchte. Maͤchtige Gruppen ſolcher Bloͤcke, nicht ſelten drei, vier und
mehr Meter hoch, lagern mit unzaͤhligen kleineren zuſammen wie Herden
von maſſigen Seeungeheuern. Ihre dunklen glattgerundeten Silhouetten
wirken beſonders ſchoͤn im horizontalen Linienwerk des Strandbildes
an Herbſtabenden, kurz vordem die Sonnenſcheibe in das Meer taucht
und ihr letztes Licht das getuͤrmte Gewoͤlk in herrlichſter Farbenzartheit
erſtrahlen laͤßt. Wo der Glint weiter in das Land zuruͤcktritt, Da
zieht ſich in die Duͤnentaͤler feuchter Miſchwald hinein. Bunteſter
Biumenkeichtum auf ſonnigen Lichtungen und eine beſonders mannig—
faltige Schmetterlingsfaung uͤberraſcht hier das Auge des Naturfreundes.
In bruchartigen Niederungen ſtehen lichte Aspenhaine mit ihrem
unruhigen Laubwerk in raſchelndem Schilfrohr. Auf trockenen Duͤnen—
hoͤhen iſt der Boden mit Heide, Preißelbeeren und der weißen Renn—
lierflechte bedeckt und kerzengrade Kiefern und Birken rahmen als Saͤulen
Baltiſche Provinzen I. Stadt. und Land.
$