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Grill, Erich
Der Ulmer Bildschnitzer Jörg Syrlin D. Ä. und seine Schule: ein Beitrag zur Geschichte der schwäbischen Plastik am Ausgang des Mittelalters — Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Band 21: Strassburg: Heitz, 1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.73234#0040
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— 26 —

langen Strähnen über Brust und Rücken herabrieselt. Dasselbe
Nebeneinander von Gebundensein und Lockerheit wiederholt
sich in der engsitzenden Taille und dem lose wallenden Ueber-
wurf. Die elegante Dame scheint sich des Raffinements ihrer
Toilette bewußt. Und es liegt vielleicht eine gewisse Absicht-
lichkeit des Künstlers vor, wenn er gerade ihr das schlichte
junge Bürgermädchen gegenüberstellt L
Mit großen fragenden Kinderaugen schaut die Lybica ihre
Nachbarin an. Halb staunend noch blickt sie in die Welt. Sie
hat so gar nichts sibyllenhaftes an sich. Unter dem einfachen
aber malerisch geschlungenen Kopftuch wölbt sich eine runde
Stirn, aus der die Haare zurückgestrichen sind. Volle Backen
zeichnen ein regelmäßiges Oval und leiten in zartem Ueber-
gang von dem anmutigen Köpfchen zu dem weichen Hals. Auf den
lieblichen Zügen liegt ein Hauch von Unschuld und Reinheit,
wie er Bellinis Madonnen eigen. Syrlin selbst ist das An-
schlägen dieser Note kaum wieder so geglückt. Seine Begabung
besteht mehr darin, in wenigen kräftigen Strichen und scharf-
abgesetzten Flächen einen ausgeprägten Charakterkopf festzu-
halten. Die folgende Tiburtina liefert ein typisches Beispiel
dieser Art. Da ist alles kantig und schroff: die Bewegung
des hageren Hauptes, die brüchigen Falten der Gewandung, die
Formen des Gesichtes und die mageren Hände. Mit geöffneten
Lippen blickt die alte Frau wie verzückt nach oben, als lausche
sie einer höheren Eingebung. Tiefe Einschnitte ziehen über
die eingefallenen Wangen. Die Halsmuskeln straffen sich. Die
Finger greifen nervös in ein hastig aufgerissenes Buch. Die
Auffassung, daß von ihm alle Weisheit der Sibylle ausgeht
und ihr ganzes Fühlen und Denken beherrscht, wird durch
eine verblüffende Linienführung veranschaulicht. Man folge den
mittleren Fingern der den Buchdeckel fassenden Linken nach
aufwärts bis zur Handwurzel. Die Falten des Stoffes über der
Brust nehmen die angedeutete Richtung auf, die über die
Sehnen des Halses weitergeht bis zu den Furchen auf der Stirn.
In diese Betonung der Vertikalen stimmen die herabfallenden

1 Zu Syrlins Zeiten werden in Ulm wiederholt Gesetze gegen den
Luxus erlassen, den der Meister wohl auf diese Weise geißeln will.
 
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