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Grill, Erich
Der Ulmer Bildschnitzer Jörg Syrlin D. Ä. und seine Schule: ein Beitrag zur Geschichte der schwäbischen Plastik am Ausgang des Mittelalters — Studien zur deutschen Kunstgeschichte, Band 21: Strassburg: Heitz, 1910

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https://doi.org/10.11588/diglit.73234#0046
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32 —

Unter den Blendarkaden der Frauenseite reihen sieh von
Osten nach Westen aneinander: Sara, Rebekka, Rahel, Susanna,
Debora, Naemi, Hanna Tobiä, Besabee, Elisabeth, die Tochter
Pharaos und die Königin von Saba, Abigail, Ruth, Joel, Sara
Tobiä, Mirjam, Lea und Hulda. Von diesen Büsten sind die
vier ersten und die drittletzte hervorzuheben: Sara, eine ehr-
würdige Erscheinung, deren feste Züge auch das hohe Alter
noch nicht zerstört hat, Rebekka, ein rassiges Weib, elegant
in Form und Gewandung, Rahel und Susanna in mädchenhafter
Anmut und Weichheit, Mirjam voll Ebenmaß und zierlicher
Bewegung. Ueber den alttestamentlichen Frauen sind unter
den Wimpergen die christlichen Heiligen angebracht und zwar
in derselben Folge: Lukas, Walpurgis, Elisabeth von Thüringen,
Cäcilie, Lucia, Ursula, Margaretha, Barbara, Katharina, Dorothea,
Afra, Ottilie, Agnes, Magdalena, Martha, Anastasia, Kosmas,
Der Evangelist am Anfang und der Arzt am Ende durchbrechen
die klösterliche Ordnung. Sonst ist strenge Trennung zwischen
Mann und Weib durchgeführt. Eine zweimalige Caesur wird
dadurch erreicht, daß prunkvolle, über Eck gestellte Baldachine
den für den figürlichen Schmuck bestimmten Raum ausfüllen.
Außer den beiden männlichen Bildnissen lassen etwa noch des
Meisters Hand erkennen: Cäcilie, mit einem Blütenkranz im
lockigen Haar, in stiller Andacht das Köpfchen neigend, und
Martha, deren freundliche Züge ein überhängendes Kopftuch
beschattet. Die Verteilung des Lichtes und die feine Linien-
führung verleihen diesem Figürchen eine Grazie, die an die
jugendlichen Sibyllen erinnert.
Ein so ausgeprägter Stil, wie ihn Syrlin besitzt, hat für
die Mitarbeiter seine großen Gefahren. Wenn sie ihren eigenen
Geschmack walten lassen, so fallen ihre Einzelarbeiten aus dem
Rahmen des Gesamtwerkes heraus. Es bleibt ihnen also nur
übrig, sich dem Empfinden des Lehrers unterzuordnen. Die
Nachahmung aber führt zu Uebertreibungen. Die natürliche
Grazie wird zu erkünstelter Pose. Zarte und weiche Ursprüng-
lichkeit verwandelt sich in verschwommene und verwaschene
Leere des Ausdrucks. Umgekehrt tritt an die Stelle der natür-
lichen Kraft eine aufgezwungene Energie. Ein Abglanz seelischen
Lebens und innerer Erregung ist nicht dadurch zu erreichen,
 
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