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Grimm, Herman
Leben Michelangelo's (Band 1): bis zum Tode Rafaels — Hannover, 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.2892#0072
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64 Leben Michelangeio's. Zweites Capitel.

Diese Betrachtung der Begebenheiten scheint dem Gesuhle
des Volkes zu entsprechen. Wir begegnen ihr überall. So*
erzählen wir und lassen uns erzählen; das Reine, Heroische
liegt in der Vergangenheit, das Gemeine in der Gegenwart.

Allein es greift eine andere Ansicht von den Dingen
um sich.

Jn der Zeit, in welcher ein Vulcan erkaltet und sich aus
seinen erstarrten Lavaströmen ein waldbewachsenes Gebirge
bildet, während der Krater nun ein ftiller, tiefliegender See
ist, sterben Generationen auf Generationen hin. Es bedurfte
drei- bis viertausend Jahre etwa, um diese Umwandlung zu
vollenden. Sie ist heute so deutlich zu erkennen, daß gar
kein Zweifel darüber waltet, wie sie vollbracht worden sei.
Solcher Langsamkeit gegenüber erscheinen die länMen Kriege
der Menschen wie das rasche Wegflackern eines Reisigfeuers,
und das durch Jahrzehnte hingezogene Leiden eines Mannes
kurz, wie der augenblickliche Tod eines Käfers, dem man mit
dem Fuße gelegentlich sein bischen Leben austritt; die fernsten
mythischen Zeiten der Geschichte liegen in ganz behaglicher,
handgreislicher Nähe vor uns. Es lebten damals Menschen
wie heute, aßen, tranken, liebten und zankten sich. Man hat
in den Seen der Schweiz Neberbleibsel von Völkern entdeckt,
deren Dasein all dem vorauszugehen scheint, was wir heute
die Geschichte von Europa nennen. Man fand halbverbranntes
Korn, Scherben, Handwerkszeug und allerlei Knochenwerk. Es
erscheint so wenig riesenhast, wie die Werkzeuge und Schädel
der Jndianer, die heute wahrscheinlich unter denselben Bedin-
gungen leben, wie jene Leute gethan, von denen wir nicht
wissen, wohin sie gegangen sind.
 
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