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Grimm, Herman
Leben Michelangelo's (Band 1): bis zum Tode Rafaels — Hannover, 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.2892#0372
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364 Lkben Michelangelo's. Ächtes Capitel.

Mal ließ er sich bis zur Nachahmung hinreißen. Er malte
in San Agostino den kolossalen Propheten Esaias, heute ver-
dorben und übermalt, aber auch den Linien nach von geringer
Anziehungskraft. Dagegen zeigt sich in den Sibyllen der
Kirche Maria della Pace und in den Deckengemälden des
vaticanifchen Zimmers die volle Kraft und Schönheit, die
aus der Vermählung Michelangeloschen Geistes und Rafaeli-
scher Phantasie entsprungen ist. --

Rafaels Phantasie bedurfte des lebendigsten Zusammen-
hanges mit dem, was gerade seine Umgebung bildete. Aus
den Männern und Frauen, die er vor Augen hatte, entstan-
den seine lebendigsten Compositionen. Er stellte sie im höch-
sten Glanze ihres Daseins dar, aber er ging nicht in jene
andere Welt über, in der Michelangelo zu Hause war. Am
besten und liebsten malte er das Costüm, in dem er die rö-
mischen Männer und Frauen sich in den Straßen der Stadt
und den Palästen bewegen sah. „Jch muß viele Frauen ge-
sehn haben, die schön sind, daraus bildet sich dann in mir
das Bild einer einzigen," schreibt er dem Grafen Castiglione
und nennt dies so entstandene Bild urm oertg, ickea, correct
im Sinne Plato's, der unter Jdee das den einzelnen Dingen
innewohnende Bild versteht, welches sie in ihrer Vollkommen-
heit darstellend wie ein unsichtbarer, glänzender Schatten gleich-
sam begleitet. Michelangelo, wenn er sich einmal an die Natur
anlehnen will, copirt sie genau, ohne sie zu erhöhen, und
geht da mit derselben Ungeschminktheit zu Werke, die man
Donatello zum Vorwurs machte. Wenn er sich aber schöpfe-
risch in den eigenen Geist versenkt, entstehen seine Bilder
von Anfcmg an wie am reinen Himmel sich Wolkengebilde
 
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