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Grimm, Herman
Leben Michelangelo's (Band 1): bis zum Tode Rafaels — Hannover, 1860

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https://doi.org/10.11588/diglit.2892#0373
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Rafael.

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plötzlich aus unsichtbaren Dünsten zusammenballen. Rasaels
Gestalten wobnt jeder ein bestimmter irdischer Kern inne, dessen
Hülle er verherrlichte. Jn ähnlicher Art dichtete Goethe wie
Rafael gemalt hat, während Schiller, mehr im Geiste Michel-
angelo's arbeitend, sich ihm auch darin nicht ungleich zeigt, daß
er, wenn einmal die Natur treu nachgezeichnet werden sollte,
bei weitem handgreislicher als Goethe wird. Michelangelo wäre
nicht im Stande gewesen, ein Gemälde zu schaffen wie die
Messe von Bolsena im zweiten Gemache des vaticanischen Pa-
lastes. Wir sehn den Papft, die Cardinäle, die Schweizer und
das Volk von Rom leibhaftig, als müßte man die Gestalten
bei ihren Namen nennen, so irdisch deutlich erscheint das Leben,
das jeden Einzelnen erfüllt, Shakespeare läßt seine Figuren
nicht natürlicher auftreten. Uud selbst da, wo Rasael nackte
Götter und Göttinnen vorbringt, sind es nur die gewandlosen
römischen Männer und Weiber; darum aber nicht weniger
würdig, in den goldenen Palästen des Olymp zu wohnen.

Beide, Rafael wie Michelangelo, standen mitten in einer
Bewegung des Lebens, durch die ununterbrochen die wahrsten
und tiefsten Gefühle der Menschen herausgefordert und fast
mit Gewalt aus die Oberfläche getrieben wurden. Die Welt
zwängte sich nicht in die lügnerischen Formen späterer Jahr-
hunderte; Männer, Frauen traten auf wie sie waren, und
was sie begehrten, danach streckten sie offen die Arme aus;
frei noch von dem drückenden Gesühl, das von da an bis
aus unsere Zeiten die Völker belastet hat, dem Kummer um
die verlorene Freiheit, sah man Vergangenheit und Zukunft
in gleichgültiger Dämmerung und die Gegenwart strahlte im
klarsten Sonnenlicht. »
 
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