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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Hrsg.]
Fragmente (Band 1,2) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47242#0015
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Auf jeden Spalt im Elendhaus
Leg' sich's wie Balsam kühl.
Es reinige die Tempel aus,
Setz' jeder Noth ein Ziel.
Und wenn dies Lied gelungen.
Nicht wünscht' ich Gold noch Ehr',
Zerschlagen möcht' die Leier ich
Und säng' kein andres mehr.
Im Wald müßt ihr verscharren
Mich heimlich unterm Tann',
Und Niemand soll erfahren,
Wer dieses Lied ersann.
Nicht ein Vers in diesem Liede, der nicht eine Anschau-
ung enthielte. Wie schön die drei ersten Strophen das aus-
führen, was von der Dichterin „die ganze Welt" genannt
wird. Wie sichtbar alle Bilder sind. Wie sie wechseln. Wie
sie Contraste bilden. Und wie rührend die letzte Strophe
zum Dichter zurückkehrt. Dieses Gedicht erklärt die namen-
losen Lieder der Volksdichtung. Wie manche Stücke des
Wunderhorns mögen so von armen Mädchen und Frauen
stammen, und Niemand weiß, wer sie ersonnen hat, weil
Niemand es erfahren sollte. In der Vorrede zu Jacob
Grimm's Buche über den deutschen Meistergesang (das er
schrieb, als er sechsundzwanzig Jahre alt war) spricht er von
den dichtenden Frauen der alten deutschen Zeit. Er sagt vom
deutschen Minnegesang: „Ich möchte in gewissem Sinne diese
Poesie kein Eigenthum der Dichter nennen. Unter Anderen!
ist offenbar, daß nie eine Poesie frauenhafter gewesen als
diese war, mit ihrer unermüdlichen Blumenliebe, mit ihrem
stillen Glänzen. Wer wollte noch Zweifel hegen, daß in dem
Gemüth der Frauen damals ganz eine solche Welt gestanden
und tausend solcher Klänge erklungen haben. Zarter als je
 
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