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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Editor]
Fragmente (Band 1,2) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47242#0016

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ein Mann gesungen. Auszusprechen fiel aber Jenen niemals
bei, ihr Leben blieb ihr Dichten und Trachten." Auch Jo-
hanna Ambrosius hat lange gewartet, ehe sie ihre Verse offen-
bar werden ließ. Es sind die Gedanken und die Gefühle
eines einsamen Mädchens und einer einsamen Frau.
Gedenke ich der Romantik, die die ersten Zeiten unseres
Jahrhunderts beherrschte, so erscheint mir die heutige Zeit
wie ein blühendes Kornfeld unendlichen schweigenden Gärten
mit Leichensteinen gegenüber. Lenau, Uhland, Rückert, Platen
und auch Heine suchten dieses Gräberfeld so dicht mit Blumen
zu bepflanzen, daß es zu leben begann. Aber wenn sie die
Todten zum Sprechen, ja zum Gesang neu belebten, immer
erklangen wie aus Gräbern diese Stimmen, und selbst die
Gegenwart schien hinunterzusteigen, um aus der Tiefe empor
zu reden. Den furchtbaren Druck dieser Weltanschauung hat
die Gegenwart von uns genommen. Ein unbezwinglicher
Drang, uns historisch bedingungslos frei zu fühlen, erfüllt
die heutige Menschheit.
Platen war unfrei durch seine Vornehmheit, Heine durch
eine gewisse Ueberhebung, gepaart mit heimlicher Selbst-
verachtung; Byron, Lenau, Uhland, Rückert vermögen ihre
Resignation nicht zu verhehlen, die sie bedrängt; es klirrt die
leise klingende Fessel, die die Geschicke Jedem von ihnen an-
schmiedeten, und tönt in ihre Verse hinein. Die Hoheit ihrer
Seele vermochte sie nicht loszulöseu von dieser Sklaverei.
Beinahe wahnsinnige Versuche werden von den heute Lebenden
gemacht, sich aus diesem Banne herauszuwinden. Aus Petöfy's
Gedichten tönte zuerst der Gesang der neuen Zeit. Er will,
wie Goethe einst, nur sich aussprechen und weiter nichts.
So weit Uebersetzungen mich urtheilen lassen, erreichen die
 
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