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Grimm, Herman; Grimm, Herman [Hrsg.]
Fragmente (Band 1,2) — Berlin, Stuttgart: Spemann, 1900

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https://doi.org/10.11588/diglit.47242#0019
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Klingt das nicht wie aus „Des Knaben Wunderhorn"?
Aus derselben Quelle scheint das zu kommen, aus dem Walter
von der Vogelweide sein „Oweh, wie sind verschwunden alle
meine Jahr'", und Goethe sein „Dadroben auf jenem Berge"
entgegenklang. Ich meine die Melodie dazu zu keunen, als
hätte ich es vor alten Zeiten einmal singen gehört. Kein
Vers ohne ein Bild dazu. Dieses Gedicht und das oben ab-
gedruckte Letzte Lied wählte ich zufällig heraus. Wie auf
jeder Wiese, wo Blumen wachsen, stehen auch in Johanna's
Liederbuche bescheidene und hervorleuchtende durcheinander.
Blumen aber alle. Und wenn sie einer abgelegenen Wiese
im Walde entsprossen sind, nicht weniger duftend darum.
Wo eine solche Blume aufblüht, im Osten Deutschlands, da
ist heiliger Boden, in dem ihre Wurzeln stecken. Und ob ein
Kind oder seine kranke Mutter sie pflückte, darf uns nicht
kümmern. Keins unter Johanna's Gedichten, das nicht den
freien Geist einer hochstehenden, aber einsamen Natur be-
kundete, die, nach laugen inneren Kämpfen, die harten Schläge
ihres Schicksals als einen Theil höherer Harmonie er-
kannt hat.
Die Aufgabe der Völker ist heute, Diejenigen heraus-
zufinden, die das Beste thun, denken und aussprechen. Wenn
ich in die Vergangenheit blicke, erscheint mir zuweilen als
unmöglich, mit wie armseligen geistigen Ernten die Nationen
früher sich begnügt haben. Eins der schönsten Zeichen des
heutigen Tages ist die Freiheit, die jedem Worte verliehen
wird, aus den tiefsten Höhlen herauf und durch die dicksten
Mauern hindurchzuklingen. Es heißt nicht mehr: Viele sind
berufen, und Wenige sind auserwählt, sondern: Alle sind be-
rufen und Viele auserwählt.
 
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