EINLEITUNG
[-2, d
Phidias und Michelangelo sind geschichtliche Gewalten im vollen Sinne des Wortes. Nicht
bloß innerhalb der geistigen Entwicklung der Menschheit ragen sie leuchtend empor, sondern
ihre Schöpfungen sind zugleich politische Taten gewesen. Michelangelos Werke sind Werke
der romanischen Rasse, und der Einsturz der Peterskirche wird einst als der des romanischen
Weltreiches gelten. Raffael hat mit beiden Meistern wenig gemein, so wenig wie der Gesang
der Nachtigall mit dem Donner des Ozeans. Und doch, wie Phidias und Michelangelo durch-
greifende politische Gewalten waren, wird auch Raffael, wenn seine Werke einst verschwunden
sind, als eine süße unwiderstehliche Macht im Gedächtnisse der Menschheit fortleben.
Als ich mein Buch über Michelangelo zum ersten Male für den Druck fertig machte, erschien
die Beigabe von Darstellungen seiner Werke als unmöglich. Mein Bestreben war, die Werke
so zu beschreiben, daß in der Phantasie des Lesers, der sie nicht gesehen hätte oder besten
Falles sich ihrer erinnerte, eine Anschauung entstände, die ihm die Gemälde und Statuen wie
Traumbilder etwa vor den inneren Blick brächte. Winckelmann und Goethe hatten Werke der
Natur und Kunst so beschrieben, ich hoffte den gleichen Weg gehen zu dürfen.
In dem Maße als im Laufe von vierzig Jahren sodann die Photographie sich vervollkommnete,
stieg meine Hoffnung, es würden Abbildungen der Werke beigegeben werden können. Es
ist endlich dahin gekommen, daß dies möglich ward: immer aber nur wenn sich jemand der
Herausgabe widmete, der in der Herstellung illustrierter Werke Erfahrung besaß und der
für mein Buch zumal so voreingenommen war, daß die Aufforderung, die Unternehmung
zu beginnen, eher von ihm als von mir ausging. Das Buch wird nun erst, mag es als Vorbereitung
dem Genüsse der wahren Werke selbst vorausgehen, mag es als Erinnerung an deren einstige
Betrachtung in die Hand genommen werden, ein erwünschter Besitz sein; denen aber wird
es vielleicht die größten Dienste leisten, die niemals nach Italien gelangten. Denn neben dem,
was ich selbst über die Werke sage, wird der Leser sich nun auch aus den Abbildungen eine
eigene Meinung formen und mein Urteil zu erweitern imstande sein. Wie tritt der geistige
Inhalt der Statue des David jetzt hervor! Als ich das Buch schrieb, stand er noch ungereinigt
neben dem Tore des Palastes auf der Piazza; heute bietet er sich in der Accademia di San Marco
mit allen Einzelheiten ganz anders dar. Man empfindet das Abwartende in der Stellung des David
Jünglings erst jetzt in voller Schärfe. Keiner der florentinischen Bildhauer, die den siegreichen & 266
Knaben darstellten, hat den Augenblick des Entschlusses so erfaßt. Donatello und Verrocchio
legen dem siegreichen Hirtenknaben das abgeschlagene Haupt des Goliath zu Füßen, Michel-
angelo läßt uns die Tat erst erwarten. Dies erinnert uns daran, wie echt dramatisch er überall,
wo er Taten darstellt, den entscheidenden Moment zu fassen weiß. Und wie wunderbar be-
stätigen die beiden Aufnahmen des Kopfes: im Profil wie im voll uns zugewandten Antlitze,
die Absicht des Meisters! Wie David mit scharfem Blicke seinen gewaltigen Gegner geistig
schon zu bezwingen sucht, ehe er die Schleuder in Flug bringt! Vor vierzig Jahren hätte ich
mir noch soviel Mühe, einen günstigen Standpunkt zu schaffen, geben können: den Anblick
und das Verständnis, welches heute die herrlichen beiden Lichtbilder gewähren, würde ich
nimmermehr damals gewonnen haben.
Michelangelos erstes Werk, Christus im Schoße der Mutter, stellt den vom Kreuze Ge- Pieta
nommenen zum ersten Male so dar, daß jeder ihn versteht. Schönheit des menschlichen Körpers, B"' 'S° 261
Frieden des Todes, geistiges Fortleben vereinen sich zu einem Anblicke, wie kein anderer
Künstler vor und nach Michelangelo ihn darbot.
5
[-2, d
Phidias und Michelangelo sind geschichtliche Gewalten im vollen Sinne des Wortes. Nicht
bloß innerhalb der geistigen Entwicklung der Menschheit ragen sie leuchtend empor, sondern
ihre Schöpfungen sind zugleich politische Taten gewesen. Michelangelos Werke sind Werke
der romanischen Rasse, und der Einsturz der Peterskirche wird einst als der des romanischen
Weltreiches gelten. Raffael hat mit beiden Meistern wenig gemein, so wenig wie der Gesang
der Nachtigall mit dem Donner des Ozeans. Und doch, wie Phidias und Michelangelo durch-
greifende politische Gewalten waren, wird auch Raffael, wenn seine Werke einst verschwunden
sind, als eine süße unwiderstehliche Macht im Gedächtnisse der Menschheit fortleben.
Als ich mein Buch über Michelangelo zum ersten Male für den Druck fertig machte, erschien
die Beigabe von Darstellungen seiner Werke als unmöglich. Mein Bestreben war, die Werke
so zu beschreiben, daß in der Phantasie des Lesers, der sie nicht gesehen hätte oder besten
Falles sich ihrer erinnerte, eine Anschauung entstände, die ihm die Gemälde und Statuen wie
Traumbilder etwa vor den inneren Blick brächte. Winckelmann und Goethe hatten Werke der
Natur und Kunst so beschrieben, ich hoffte den gleichen Weg gehen zu dürfen.
In dem Maße als im Laufe von vierzig Jahren sodann die Photographie sich vervollkommnete,
stieg meine Hoffnung, es würden Abbildungen der Werke beigegeben werden können. Es
ist endlich dahin gekommen, daß dies möglich ward: immer aber nur wenn sich jemand der
Herausgabe widmete, der in der Herstellung illustrierter Werke Erfahrung besaß und der
für mein Buch zumal so voreingenommen war, daß die Aufforderung, die Unternehmung
zu beginnen, eher von ihm als von mir ausging. Das Buch wird nun erst, mag es als Vorbereitung
dem Genüsse der wahren Werke selbst vorausgehen, mag es als Erinnerung an deren einstige
Betrachtung in die Hand genommen werden, ein erwünschter Besitz sein; denen aber wird
es vielleicht die größten Dienste leisten, die niemals nach Italien gelangten. Denn neben dem,
was ich selbst über die Werke sage, wird der Leser sich nun auch aus den Abbildungen eine
eigene Meinung formen und mein Urteil zu erweitern imstande sein. Wie tritt der geistige
Inhalt der Statue des David jetzt hervor! Als ich das Buch schrieb, stand er noch ungereinigt
neben dem Tore des Palastes auf der Piazza; heute bietet er sich in der Accademia di San Marco
mit allen Einzelheiten ganz anders dar. Man empfindet das Abwartende in der Stellung des David
Jünglings erst jetzt in voller Schärfe. Keiner der florentinischen Bildhauer, die den siegreichen & 266
Knaben darstellten, hat den Augenblick des Entschlusses so erfaßt. Donatello und Verrocchio
legen dem siegreichen Hirtenknaben das abgeschlagene Haupt des Goliath zu Füßen, Michel-
angelo läßt uns die Tat erst erwarten. Dies erinnert uns daran, wie echt dramatisch er überall,
wo er Taten darstellt, den entscheidenden Moment zu fassen weiß. Und wie wunderbar be-
stätigen die beiden Aufnahmen des Kopfes: im Profil wie im voll uns zugewandten Antlitze,
die Absicht des Meisters! Wie David mit scharfem Blicke seinen gewaltigen Gegner geistig
schon zu bezwingen sucht, ehe er die Schleuder in Flug bringt! Vor vierzig Jahren hätte ich
mir noch soviel Mühe, einen günstigen Standpunkt zu schaffen, geben können: den Anblick
und das Verständnis, welches heute die herrlichen beiden Lichtbilder gewähren, würde ich
nimmermehr damals gewonnen haben.
Michelangelos erstes Werk, Christus im Schoße der Mutter, stellt den vom Kreuze Ge- Pieta
nommenen zum ersten Male so dar, daß jeder ihn versteht. Schönheit des menschlichen Körpers, B"' 'S° 261
Frieden des Todes, geistiges Fortleben vereinen sich zu einem Anblicke, wie kein anderer
Künstler vor und nach Michelangelo ihn darbot.
5