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Grimm, Herman
Michelangelo: sein Leben in Geschichte und Kultur seiner Zeit, der Blütezeit der Kunst in Florenz und Rom — Berlin: Safari-Verlag, 1941

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https://doi.org/10.11588/diglit.71912#0039
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Die Borgia in Rom

erholen drohte, von Cesare Borgia, Lucrezias Bruder, der diesen Überfall eingerichtet hatte,
auf seinem Krankenlager erdrosselt.
Dieser Cesare Borgia, der Lieblingssohn Alexanders, war damals fünfundzwanzig Jahre alt,
schön von Gestalt und riesenmäßig stark. Auf einem mit Schranken umgebenen Platze vor dem
Vatikan tötete er sechs wilde Stiere, gegen die er zu Pferde kämpfte. Dem ersten schlug er
auf einen Hieb den Kopf herunter. Ganz Rom staunte. Nicht geringer aber als seine Kraft war
seine Wildheit. Messer Pierotto, den Liebling seines Vaters, erstach er unter dessen eigenem
Mantel, wohin er sich geflüchtet hatte, daß dem Papste das Blut ins Gesicht spritzte. Alle Morgen
fand man in den Straßen vier bis fünf Leichen, darunter Bischöfe und hohe Prälaten. Rom
war in Schrecken vor Cesare.
Zu jener Zeit muß er den Herzog von Gandia, seinen Bruder, ermordet haben. Er ließ ihn
erdolchen und in den Tiber werfen. Dann teilte er dem Papste selber mit, daß die Tat von ihm
ausgegangen sei. Das Oberhaupt der Christenheit, außer sich vor Wut und Schmerz, erscheint
im Kollegium der Kardinäle, heult um seinen Sohn, wirft sich seine Verbrechen vor, die er bis
dahin begangen hat, und gelobt Besserung. Das hielt für einige Tage, da war es vorüber und
die Aussöhnung mit Cesare ließ nicht lange auf sich warten. Diese furchtbare Familie war zu
sehr aufeinander angewiesen, um in sich selbst lange uneins bleiben zu können. Falsch, schamlos,
lügnerisch, ohne Treu und Glauben, von unersättlicher Habgier und ruchlosem Ehrgeiz, grausam
bis zur Barbarei, so zählt Guicciardini des Papstes Laster auf. Ein solcher Charakter scheint
unmöglich in unseren Tagen, er fände keinen Raum, um seine Geierflügel völlig auszuspannen,
und keine Beute mehr, auf die er stoßen könnte. So völlig aber passen die Borgia in ihre Zeit
hinein, daß sie nur dann daraus hervorstechen, wenn wir ihre Eigenschaften aus dem Rahmen
dessen, was sie umgab, herausgenommen für sich betrachten. Vertiefen wir uns in die Taten, die
von anderen um sie her ausgingen, so erscheinen ihre Verbrechen beinahe ausgeglichen, und wir
gewinnen sogar die Freiheit, ihre guten Seiten zu würdigen, das heißt die Kraft, durch die sie die
anderen überboten, die vielleicht nur ihrer Schwäche wegen weniger gebrandmarkt dastehen.
Das waren die Menschen, die im Vatikan wohnten, als Michelangelo nach Rom kam. Von Die Brüder
Künstlern, die er dort antraf, sind die bedeutendsten zwei Florentiner, Antonio Polla- Polla™ol°
iuolo, der noch unter Ghiberti an den goldenen Türen mitgearbeitet hatte, und sein jüngerer
Bruder Piero, völlig eingebürgert, wohlhabend und willens, ihre Tage in Rom zu beschließen.
Piero muß um die Zeit gestorben sein, als Michelangelo ankam; Antonio jedoch, der bedeuten-
dere, lebte noch bis 1498. Er begann als Goldschmied, ward berühmt seiner Zeichnungen wegen,
nach denen viele Künstler arbeiteten, bekam selber Lust zu malen, modellierte, bildhauerte
und goß in Erz. Nach Papst Sixtus' Tode wurde er vom Kardinal Vincula nach Rom berufen,
um ein Grabmonument für ihn auszuführen. Dies geschah 1494. Pollaiuolos umfangreiches
Bronzewerk zeigt den Papst lang ausgestreckt auf einem Unterbaue, der mit korinthischem
Blätterschmuck meisterhaft umkleidet ist. Nach seiner Vollendung übertrug man ihm die
gleiche Arbeit für Innozenz VIII., der mit Lorenzo dei Medici in einem Jahre verschied,
und den er in sitzender Gestalt arbeitete. Außerdem sind viele Werke seiner Hand in den
kleineren römischen Kirchen zu finden; jene beiden Monumente wurden in der Basilika von
Sankt Peter errichtet, wo sie noch zu sehen sind.
Pollaiuolos Stärke war die Strenge der Zeichnung, seine Farbe ist kalt und undurchsichtig.
In den Figuren aber liegt ein Zug zum Großen und Einfachen, das sonst den florentiner Meistern
weniger eigen war als denen der umbrischen Malerschule. Es ist wohl anzunehmen, daß Michel-
angelo sich jetzt in Rom an Pollaiuolo persönlich anschloß.

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