Brief Pietro Aretinos an Michelangelo
strich Michelangelos mehr zu erkennen ist. Alte Stiche zeigen die beiden Gemälde ebenso-
gut als diese so mißhandelten Originale. Es sind umfangreiche Kompositionen, dadurch auf-
fallend, daß viele Gruppen, weit auseinander stehend, zu keiner rechten Einheit gelangen.
Die Figuren sind sehr zahlreich, und auch in den Gewölken fehlt es daran nicht. Von aller
Wirkung, die diese Arbeiten vor Zeiten vielleicht getan, blieb nichts übrig, als der erschütternde
Anblick des mit dem Kopfe zu unterst ans Kreuz genagelten Petrus. Die Halsbewegung, mit
der er, ohne daß es ihm gelänge, den Kopf umdrehen und aufrichten möchte, hat etwas ein-
dringlich Wahres. Man fühlt die machtlose Anstrengung und das Leiden. Wie die Farben
waren, erkennen wir nicht mehr. Aufsehen scheinen diese Gemälde, wie Michelangelos frühere
Werke, bei ihrer Aufdeckung nicht gemacht zu haben.
Diese Kreuzigung Petri ist es, die Vittoria in ihrem Briefe meinte, als sie Michelangelos
allzu feurige Korrespondenz mit der Bemerkung abschnitt, er werde morgens nicht zur rechten
Zeit an seine Arbeit gehen können und müsse so dem Statthalter Christi aufErden untreu werden.
Die Arbeit machte ihm in der Tat Mühe. Es bedürfe, sagte er selbst, eines rüstigeren Körpers
zur Freskomalerei, wo man mit nassem Kalke zu tun und eine große Fläche vor sich habe,
vor der man auf den Gerüsten herumklettern müsse. Schon bei der Arbeit am Jüngsten Gericht
war ihm zugestoßen, daß er, aus ziemlicher Höhe vom Gerüste herunterstürzend, sich am
Beine beschädigte. Wütend darüber und von Schmerzen geplagt, hält er sich in seinem Hause
eingeschlossen und will keinen Arzt einlassen, bis ein florentiner Doktor, Baccio Rontini,
ein sehr geschickter Mann und sein großer Verehrer, durchs Fenster in das Haus einsteigt,
von Stube zu Stube vordringt und endlicli zu dem alten Meister gelangt, den er in voller Ver-
zweiflung vorfindet. Baccio blieb bei Michelangelo, bis er geheilt war, ohne ihn auch nur einen
Augenblick allein zu lassen. Dies war 1541 geschehen. Im Jahre 44 lag Michelangelo abermals
schwer krank im Hause seines Freundes Luigi del Riccio (der Papst ließ alle Tage fragen
und die Kardinäle kamen selber, um ihm ihren Besuch zu machen). Diese Gemälde sind die
letzten Malereien, die er geschaffen hat.
Die Sache mit dem Herzog von Urbino aber, obschon es zum Vergleich gekommen war,
ruhte unterdessen nicht. Das Geschwätz gegen Michelangelo dauerte fort und brachte ihm
endlich eine Kränkung ein, die gerade von der Seite, von der sie kam, und durch die Art, wie
der Streich geführt wurde, ihn empfindlich berühren mußte.
Es lebte und schrieb damals ein Mann in Italien, der zu den merkwürdigsten Erscheinungen Aretin
seiner Nation gehört: Aretin; sein Name wurde schon genannt. Um ihn mit wenigen Worten
zu charakterisieren, könnte es genügend erscheinen, ihn für einen der geistreichsten und zu-
gleich verächtlichsten Menschen zu erklären. Allein so sehr dies zutrifft, so wenig Inhalt
würden diese Bezeichnungen haben ohne die Darlegung der Umstände, unter denen der Mann
wirkte. Aretin steht als eine Persönlichkeit da, die jedem Ekel einflößen muß, der nur die
schwächsten Anforderungen moralischer Art an den Menschen macht. Auch urteilte man
seinerzeit so über Aretin in Italien. Zugleich aber wurde geduldet, daß seine Schriften einen
Einfluß auf die öffentliche Meinung ausübten, wie ihn in jetziger Zeit kein Journal in Frank-
reich, England oder Amerika besitzt, denn auch das mächtigste Blatt steht ohne Widerspruch
nicht da und hat die öffentliche Meinung nicht als alleiniger Inhaber in der Hand: Aretins
Blätter aber wirkten ohne alle Konkurrenz, wenn er sie von Venedig aus, wo er wie eine
giftige Kröte in unnahbar freien Sümpfen saß, in die Welt sandte.
Er ist der Stammvater der modernen Journaille. Er schrieb über alles und für jedermann.
Prosa und Verse, Weltliches und Geistliches, Erbauendes und Verführerisches. Keiner konnte
14 Grimm, Michelangelo
209
strich Michelangelos mehr zu erkennen ist. Alte Stiche zeigen die beiden Gemälde ebenso-
gut als diese so mißhandelten Originale. Es sind umfangreiche Kompositionen, dadurch auf-
fallend, daß viele Gruppen, weit auseinander stehend, zu keiner rechten Einheit gelangen.
Die Figuren sind sehr zahlreich, und auch in den Gewölken fehlt es daran nicht. Von aller
Wirkung, die diese Arbeiten vor Zeiten vielleicht getan, blieb nichts übrig, als der erschütternde
Anblick des mit dem Kopfe zu unterst ans Kreuz genagelten Petrus. Die Halsbewegung, mit
der er, ohne daß es ihm gelänge, den Kopf umdrehen und aufrichten möchte, hat etwas ein-
dringlich Wahres. Man fühlt die machtlose Anstrengung und das Leiden. Wie die Farben
waren, erkennen wir nicht mehr. Aufsehen scheinen diese Gemälde, wie Michelangelos frühere
Werke, bei ihrer Aufdeckung nicht gemacht zu haben.
Diese Kreuzigung Petri ist es, die Vittoria in ihrem Briefe meinte, als sie Michelangelos
allzu feurige Korrespondenz mit der Bemerkung abschnitt, er werde morgens nicht zur rechten
Zeit an seine Arbeit gehen können und müsse so dem Statthalter Christi aufErden untreu werden.
Die Arbeit machte ihm in der Tat Mühe. Es bedürfe, sagte er selbst, eines rüstigeren Körpers
zur Freskomalerei, wo man mit nassem Kalke zu tun und eine große Fläche vor sich habe,
vor der man auf den Gerüsten herumklettern müsse. Schon bei der Arbeit am Jüngsten Gericht
war ihm zugestoßen, daß er, aus ziemlicher Höhe vom Gerüste herunterstürzend, sich am
Beine beschädigte. Wütend darüber und von Schmerzen geplagt, hält er sich in seinem Hause
eingeschlossen und will keinen Arzt einlassen, bis ein florentiner Doktor, Baccio Rontini,
ein sehr geschickter Mann und sein großer Verehrer, durchs Fenster in das Haus einsteigt,
von Stube zu Stube vordringt und endlicli zu dem alten Meister gelangt, den er in voller Ver-
zweiflung vorfindet. Baccio blieb bei Michelangelo, bis er geheilt war, ohne ihn auch nur einen
Augenblick allein zu lassen. Dies war 1541 geschehen. Im Jahre 44 lag Michelangelo abermals
schwer krank im Hause seines Freundes Luigi del Riccio (der Papst ließ alle Tage fragen
und die Kardinäle kamen selber, um ihm ihren Besuch zu machen). Diese Gemälde sind die
letzten Malereien, die er geschaffen hat.
Die Sache mit dem Herzog von Urbino aber, obschon es zum Vergleich gekommen war,
ruhte unterdessen nicht. Das Geschwätz gegen Michelangelo dauerte fort und brachte ihm
endlich eine Kränkung ein, die gerade von der Seite, von der sie kam, und durch die Art, wie
der Streich geführt wurde, ihn empfindlich berühren mußte.
Es lebte und schrieb damals ein Mann in Italien, der zu den merkwürdigsten Erscheinungen Aretin
seiner Nation gehört: Aretin; sein Name wurde schon genannt. Um ihn mit wenigen Worten
zu charakterisieren, könnte es genügend erscheinen, ihn für einen der geistreichsten und zu-
gleich verächtlichsten Menschen zu erklären. Allein so sehr dies zutrifft, so wenig Inhalt
würden diese Bezeichnungen haben ohne die Darlegung der Umstände, unter denen der Mann
wirkte. Aretin steht als eine Persönlichkeit da, die jedem Ekel einflößen muß, der nur die
schwächsten Anforderungen moralischer Art an den Menschen macht. Auch urteilte man
seinerzeit so über Aretin in Italien. Zugleich aber wurde geduldet, daß seine Schriften einen
Einfluß auf die öffentliche Meinung ausübten, wie ihn in jetziger Zeit kein Journal in Frank-
reich, England oder Amerika besitzt, denn auch das mächtigste Blatt steht ohne Widerspruch
nicht da und hat die öffentliche Meinung nicht als alleiniger Inhaber in der Hand: Aretins
Blätter aber wirkten ohne alle Konkurrenz, wenn er sie von Venedig aus, wo er wie eine
giftige Kröte in unnahbar freien Sümpfen saß, in die Welt sandte.
Er ist der Stammvater der modernen Journaille. Er schrieb über alles und für jedermann.
Prosa und Verse, Weltliches und Geistliches, Erbauendes und Verführerisches. Keiner konnte
14 Grimm, Michelangelo
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