IBSENDÄMMERUNG
61
III.
Jetzt sehen wir Ibsen mit entzauberten Augen an.
Vor einem Jahre wagte Reinhard, die „Hedda Gabler“ wieder
zu spielen, und siehe da, die ersten Akte gefielen — als ein fein
gefühltes, zart betontes französisches Lustspiel mit norwegischem
Namen. Das Dreieck des gutmütig-bornierten Privatdozenten, seiner
unausgefüllten Frau und des vorsichtig am Eheglück der anderen
herumknabbernden Landgerichtsrates amüsierte. Als aber die Komödie
eigentlich ibsenisch zu werden anfing, da begann der Zuschauer inner-
lich zu streiken. Er wurde verdrießlich, als die überspannte Generals-
tochter mit den Pistolen ihres Papas herumzufuchteln begann, und als
Herr Lövborg, das Genie, auftauchte und von seinem menschheit-
erlösenden Manuskript zu reden anfing. Hier wird Ibsen Literatur
im schlechteren Sinne des Wortes, das heißt: er gibt Literatur für
Literaten. Unmöglich, den Verlust eines Manuskripts so feierlich
tragisch zu werten, wie Ibsen es tat. Daß Hedda Gabler sich vor
den Kamin setzt und dieses Manuskript festlich verbrennt, das
nahmen wir nicht mehr mit der unbedingten Gläubigkeit auf wie vor
zwanzig Jahren. Wenn Herr Lövborg wirklich das Genie ist, als
welches von ihm die Rede ist, so ist entweder anzunehmen, daß er
eine Abschrift seines welterlösenden Buches besitzt oder wenigstens
seine entscheidenden Notizen aufbewahrt hat, oder, im schlimmsten
Falle, das Werk nochmals aus seinem Kopfe niederschreiben muß.
Der Verlust eines Manuskripts, noch dazu eines philosophisch-
politischen Werkes, ist ein Unglücksfall, keine Tragödie. Dieser stille
Streik des Zuschauers steigerte sich bis zu einem deutlich vernehm-
baren Kichern, als Frau Gabler von ihrem verhinderten Vierten im
Dreieck trotzig verlangte, er müsse „mit Weinlaub im Haar“ ge-
storben sein. Ach Gott, wie verwelkt ist dieses Weinlaub in zwanzig
Jahren geworden! Wie kitschig mutet diese dämonische Lyrik der
61
III.
Jetzt sehen wir Ibsen mit entzauberten Augen an.
Vor einem Jahre wagte Reinhard, die „Hedda Gabler“ wieder
zu spielen, und siehe da, die ersten Akte gefielen — als ein fein
gefühltes, zart betontes französisches Lustspiel mit norwegischem
Namen. Das Dreieck des gutmütig-bornierten Privatdozenten, seiner
unausgefüllten Frau und des vorsichtig am Eheglück der anderen
herumknabbernden Landgerichtsrates amüsierte. Als aber die Komödie
eigentlich ibsenisch zu werden anfing, da begann der Zuschauer inner-
lich zu streiken. Er wurde verdrießlich, als die überspannte Generals-
tochter mit den Pistolen ihres Papas herumzufuchteln begann, und als
Herr Lövborg, das Genie, auftauchte und von seinem menschheit-
erlösenden Manuskript zu reden anfing. Hier wird Ibsen Literatur
im schlechteren Sinne des Wortes, das heißt: er gibt Literatur für
Literaten. Unmöglich, den Verlust eines Manuskripts so feierlich
tragisch zu werten, wie Ibsen es tat. Daß Hedda Gabler sich vor
den Kamin setzt und dieses Manuskript festlich verbrennt, das
nahmen wir nicht mehr mit der unbedingten Gläubigkeit auf wie vor
zwanzig Jahren. Wenn Herr Lövborg wirklich das Genie ist, als
welches von ihm die Rede ist, so ist entweder anzunehmen, daß er
eine Abschrift seines welterlösenden Buches besitzt oder wenigstens
seine entscheidenden Notizen aufbewahrt hat, oder, im schlimmsten
Falle, das Werk nochmals aus seinem Kopfe niederschreiben muß.
Der Verlust eines Manuskripts, noch dazu eines philosophisch-
politischen Werkes, ist ein Unglücksfall, keine Tragödie. Dieser stille
Streik des Zuschauers steigerte sich bis zu einem deutlich vernehm-
baren Kichern, als Frau Gabler von ihrem verhinderten Vierten im
Dreieck trotzig verlangte, er müsse „mit Weinlaub im Haar“ ge-
storben sein. Ach Gott, wie verwelkt ist dieses Weinlaub in zwanzig
Jahren geworden! Wie kitschig mutet diese dämonische Lyrik der