Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Hager, Hellmut
Die Anfänge des italienischen Altarbildes: Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte des toskanischen Hochaltarretabels — Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, Band 17: München: Schroll, 1962

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48329#0093
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
des Pisaner Domes eine ständig hinter dem altare maggiore befindliche Pala der Muttergottes mit den
beiden Patroninnen der Kirche zu besitzen. Trotz des für die Entstehung des Marienhochaltarretabels
in dieser Übertragung liegenden Fortschritts handelt es sich nur um einen Versuch, der ohne direkte
Nachfolge geblieben ist, da die um 1260 zuerst in Pisa auftretenden Flachgiebeldossale nur die Retabel-
form wieder verwenden, in der Flächendisposition aber von anderen Einflüssen bestimmt werden.
Besteht bei den halbfigurigen Marienikonen zumindest ein starker Verdacht, daß sie auf oder in Zusam-
menhang mit Hauptaltären gestanden haben, so ist doch durch die Tradition dieser Bildform die vor-
wiegende und zeitlich primäre Verwendung als Andachtsikone über Seitenaltären oder unabhängig von
ihnen als bloße Devotionstafeln nahegelegt, obwohl wir, im Gegensatz zu Rom, kaum durch an ent-
sprechenden Orten im Kirchengebäude erhaltene Fresken direkte Vergleichsstücke haben, die uns diese
Funktion noch heute anzeigen. Auf ihr Vorhandensein läßt jedoch die von Garrison58 zwischen 1125-1175
datierte, als Nischenfresko ausgeführte Heiligenikone (Abb. 111) schließen, die sich in S. Ponziano zu
Lucca in der rechts neben der Apsis gelegenen Kammer befindet, die wahrscheinlich als Sakristei der jetzt
aufgehobenen Kirche diente. Das bei der großen Zahl der in der Toskana noch existierenden romanischen
Kirchen auffällig seltene Vorkommen solcher Beispiele ist, neben dem reichen Bestand beweglicher
Holzikonen des 13. Jhs., ein Zeichen dafür, daß man sich in der Ikonenmalerei fast ausschließlich dem
Tafelbilde zuwandte.
Eine dem römischen Brauch entsprechende Verwendung von Marienikonen über Seitenaltären wird uns
in Pisa durch Da Morrona59 überliefert, der solche Bilder (Garr. 111, um 1260-1270) in S. Michele und
S. Pierino erwähnt. Ist auch die Form der Aufstellung zu seiner Zeit wohl nicht mehr die ursprüngliche,
so doch sicher die Funktion der Ikonen, die zu dem im Mittelalter beliebtesten Andachtsbildtyp gehören.
Von den bis auf zwei Beispiele alle in Museen oder Privatsammlungen befindlichen florentinischen
Dugentotafeln dieser Gattung liegen keine alten Nachrichten vor.
In der Anbringung über Seitenaltären und der gelegentlich auftretenden Beziehung zum altare maggiore
stellt sich bei den betrachteten toskanischen Marientafeln prinzipiell die gleiche Situation dar wie in
Rom und Byzanz, deren Gepflogenheiten der erste in der Toskana feststellbare Bildergebrauch sich
anschließt. So hat das halbfigurige toskanische Marienbild in funktionaler Hinsicht in seinen Anfängen
teil an der zu Beginn des 13. Jhs. in bezug auf die Muttergottesikonen zwischen Byzanz und Italien noch
immer bestehenden Einheit, wenn auch im Osten mit der Einbeziehung als fixe Ikonen in das Templon-
programm schon der Weg beschritten wird, der zur Stagnation der Marienbildentwicklung führt. Bis auf
die mehr realistische Auffassung, die sich von dem Glauben an die Achiropoiten- und Lukaslegenden
freihält, sind im praktischen Gebrauch keine wesentlichen Unterschiede festzustellen. Die an die frühesten
Formen des byzantinischen Bilderkultus erinnernden vielfachen Umhüllungen und die auf wenige Gele-
genheiten beschränkte Zugänglichkeit der Pisaner Domikone gelten hier nicht etwa einer „nicht von
Menschenhand geschaffenen“ Darstellung, sondern der im Kampf erworbenen Trophäe, die man der
Muttergottes weiht.
Bei der Betrachtung der toskanischen Tafelmalerei erweisen sich die beiden Städte Lucca und Pisa als
die ersten, in denen eine auf die Anfertigung von Tafelbildfolgen sich auswirkende Verehrung der Mutter-
gottes stattgefunden hat. Die frühesten Beispiele entstehen in den gleichen Werkstätten, die auch die
zeitliche Priorität in der croce dipinta-Produktion besitzen. Sie setzen jedoch erst etwas später als die
Tafelkreuze ein. Der zunächst noch, wenn auch aus weiter Ferne erkennbare Einfluß des römischen
Prototypus, tritt schon am Anfang des 13. Jhs. hinter den byzantinischen Form vorbildern zurück. Wie
bei den Kreuzen sind es die Bettelorden, die sich des vorhandenen Bildtypus bedienen und durch seine
Verwendung bei der Ausbreitung wesentlich mitbeteiligt sind.
Das gleichzeitige Auftreten des Tafelkruzifixes und der halbfigurigen Marienikone, die beide seit dem
ersten Viertel des 13. Jhs. einen gemeinsamen Aufschwung nehmen, ist der bildliche Niederschlag, der
während des Dugento in der Toskana und in Umbrien von den Mendikantenorden belebten Marien- und
Kreuzesverehrung, auf die wir in dem Abschnitt über die Geschichte des Marienkultes sowie im
letzten Kapitel zurückkommen werden, wenn wir uns den theologisch-kultischen Voraussetzungen der
Tafelbildausstattung zuwenden.
Ein erster Hinweis hierauf ist die Beobachtung, daß bei der Verbreitung der beiden ältesten Typen der
toskanischen Tafelmalerei sich das Mendikantentum schon als ein wichtiges Kristallisationszentrum
herausstellt.

85
 
Annotationen