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ähnliches beobachten konnten, was uns jetzt in Pisa begegnet und darum wohl auch in einer Tradition
verankert ist, die bis dicht an den Zeitpunkt der Besitzergreifung zurückreicht. Sieben Tücher umhüllen
die Ikone, die selbst an den höchsten Feiertagen unsichtbar bleibt und nur etwa zehnmal in jedem Jahr-
hundert den Augen der Gläubigen dargeboten wird. Diese Zurückhaltung übertrifft alle uns bisher
bekannt gewordenen Fälle und zeigt in fast extremer Weise, wie die in der Wertschätzung der Reliquie
gleichgestellte Ikone mit der Übernahme der neu hinzugewonnenen Eigenschaft fast den ursprünglichen
Charakter als Bild verliert, das sein hier beinahe vollständig negiertes Wesen - im Gegensatz zur Reliquie
- ja nur in der Sichtbarkeit zu entfalten vermag. So bedeutet auch in Pisa die Erlangung des maximal
möglichen Wertquotienten zugleich das Ende der ursprünglichen Bestimmung. Die reliquiengleiche
Verehrung hat wieder die reliquiengleiche Verschließung zur Konsequenz. In absoluter Abgeschiedenheit
ruht die Ikone, gleich den Gebeinteilen eines Heiligen, in ihrem Gehäuse. Nur noch bei den auf ein oder
wenige Male im Ablauf einer Generation beschränkten Gelegenheiten kann sie ihren eigentlichen Zweck
als kontaktvermittelnder Gegenstand erfüllen, für dessen Funktionswirksamkeit die äußeren Umstände
dann allerdings Voraussetzungen geschaffen haben, die nur wenigen Bildern beschieden sind.
Die Tafel von S. Chiara (Abb. 103) befindet sich in einer Nische hinter dem Hochaltar, wo sie Da Morrona
„nella chiesa nuova dello spedale“ erwähnt. Ob sie bereits in dem ursprünglichen Bau an ähnlicher Stelle
angebracht war, ist nicht ausgeschlossen, da 1302 Cimabue ein Marienpolyptychon für den altare maggiore
in Auftrag gegeben wurde, das heute verschollen ist und möglicherweise dazu bestimmt war, das unschein-
bare Andachtsbild durch ein zweckentsprechendes Retabel zu ersetzen54. Die Ikone hätte dann, ihren
Nachfolger überlebend, in der neuen Kirche den alten Platz wiedererlangt.
Über einem Hauptaltar befindet sich ferner die Marienpala, die in der 1117 gegründeten und am Anfang
des 18. Jhs. erneuerten Kirche55 SS. Eufrasia e Barbara an der Rückwand der Apsis angebracht ist (Ab-
bildung 105). Hier erwähnt sie Da Morrona56, der bereits auf die stilistische Abhängigkeit von der „Ma-
donna di sotto gli organi“ hin weist. Die Inschriftfragmente deuten darauf hin, daß die Tafel für die
Kirche gemalt wurde, in der sie sich noch heute befindet. Garrison57 hat vermutet, daß sie zu halb-
figurigen Heiligendarstellungen gehörten und das Fragment demnach das Mittelstück eines Flach-
dossales bildete. Bei solchen unter Arkaden aufgereihten Brustbildern sind jedoch keine vertikalen
Inschriften gebräuchlich, die hier vielmehr auf stehende, in verkleinertem Maßstab dargestellte Figuren
deuten, wie sie die Haupttafel des kleinen Triptychons in New Haven (Garr. 330) neben der Hodegetria
zeigt. Die bezüglich der ursprünglichen Tafelgestalt geäußerte Vermutung scheint dagegen zuzutreffen.
Für die Annahme eines Flachgiebeldossales sprechen die auf der Rückseite noch sichtbaren Schnitt-
kanten des Tympanons, die später zum Rechteck ergänzt und mit einer Lederbekleidung überzogen
wurden. Sie stimmen nicht mit den etwas höher liegenden Schrägen dieser Auflage überein (vgl. unseren
Rekonstruktionsversuch Abb. 106). Weitere Kriterien für ein solches Dossale sind ferner die bei ein-
fachen halbfigurigen Marienikonen nicht üblichen, horizontal gefugten Brettlagen und der in der Mitte auf
der Rückseite erhaltene ca. 4,5 x 7 cm starke Vertikalbalken. Da die von den Miniaturgestalten der Schirm-
heiligen flankierte Muttergottesdarstellung nicht ausreicht um die Fläche eines Flachgiebeldossales
zu füllen und andererseits die Verbindung mit Heiligenhalbfiguren aus kompositorischen Gründen
nicht in Frage kommt, kann man sich die äußeren Teile kaum anders als mit Szenen besetzt vorstellen.
Eine solche Form ist wohl zu diesem Zeitpunkt ohne Beispiel, dasselbe gilt jedoch auch für die von Gar-
rison dem gleichen Meister zugeschriebene, die Typenentwicklung höchst eigenwillig variierende Pala
im Bargello (Abb. 185; Garr. 390; 1,10 x 0,71 m; 1260-70), wo neben der Madonna in trono, aber nur auf
der rechten Seite, vier Passionsszenen sichtbar sind. Die naheliegende Annahme, daß die links ent-
sprechenden Felder einer späteren Beschneidung zum Opfer fielen, scheidet aus, da der Ansatz des
ursprünglichen Rahmenprofils noch erhalten ist.
Die Abmessungen des Dossales von SS. Eufrasia e Barbara betragen in dem von uns hypothetisch rekon-
struierten Zustand ca. 1,33x2,35m und entsprechen damit in der Breite ungefähr den Stücken dieser
Gattung (vgl. Kap. 6, Abb. 155ff.), die jedoch alle niedriger sind.
Die Vergleichsbeispiele für die Formgebung der Pala sind die seit 1228 nachweisbaren Vitaretabel des
hl. Franz (vgl. Kap. 2, Abb. 128 und 130 ff.). Ihre Konzeption stellt eine Übertragung der von ihnen ent-
lehnten Tafelform auf den Typus der halbfigurigen Marienikone dar, die durch die Giebelgestalt und die
eventuelle Übernahme der seitlichen Szenen für die Retabelverwendung hergerichtet wird, vermutlich
aus dem Wunsche heraus, nach dem Vorbild der nur gelegentlich auf den Hochaltar gesetzten Ikone

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