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Aus den anderen toskanischen Schulen haben wir keine zeitentsprechenden Beispiele von erhaltenen
halbfigurigen Marienbildern. Man wird sie jedoch, wenn auch in weit geringerer Zahl, voraussetzen müssen.
In Siena kennen wir wohl eine 1190 datierte Ikone, bei der es sich auf Grund ihrer Entstehungszeit eher
um ein Halbstück als um eine ganzfigurige Darstellung gehandelt haben dürfte, u. zw. durch Ugurghieri,
der sie 1649 in den Pompe Sanesi ,,... in Casa di Guglielmo Palmieri erwähnt44. Vielleicht gehörte
auch das in der Prozession am Tage vor der Schlacht von Montaperti (1260) mitgeführte Tafelbild dem
gleichen Typus an45. Die zum Andenken an das Gelübde der Stadtweihe an die Muttergottes angefertigte
Pala der sogenannten „Madonna del Voto“ (Abb. 187; Garr. 650) muß höchstwahrscheinlich halbfigurig
rekonstruiert werden. Da sie jedoch bereits einem anderen Zusammenhang zugehörig ist, stellen wir ihre
Behandlung vorerst zurück.
Aus den umbrischen Schulen sind vom Anfang des Dugento Tafelbilder der Muttergottes nicht erhalten.
Die Funktion der halbfigurigen Marientafeln ist durch ihren Charakter als Andachtsbild bestimmt, dessen
Verwendung auf kleinen Altären oder als bloße Devotionsikone wir uns analog den in Rom und Byzanz
angetroffenen Verhältnissen vorstellen können. Da die dort auftretenden Beispiele häufig als Lukasbilder
in höchster Verehrung standen und darum für die Verfasser von Chroniken Gegenstände größeren Inter-
esses darstellten, können sie leichter in der Quellenliteratur zurückverfolgt werden als die frühen, zu
einem großen Teil in ihrer Provenienz unbekannten toskanischen Marientafeln, bei denen weder die
Autorschaft des Evangelisten Lukas behauptet wird, noch eine Verbindung mit irgendwelchen Achiro-
poitenlegenden vorliegt. Als für praktische Gebrauchszwecke hergestellte Gegenstände erlangen sie nur
dann eine größere Bedeutung, wenn Beziehungen zu besonderen Begebenheiten vorliegen oder Ereignisse
eingetreten sind, die zu einer Verehrung als Gnadenbild führen. Da beides in Lucca und Pisa im Ver-
hältnis zu Rom relativ selten gewesen ist und die Wertschätzung das gewöhnliche Maß nicht oft über-
steigt, fließen die alten Nachrichten in bezug auf die halbfigurigen Marienikonen auch nur verhältnis-
mäßig spärlich. Eine gewisse Ausnahme macht nur die Tafel im Dom zu Pisa, deren Provenienz ver-
schieden überliefert wird (Abb. 101). Am ehesten vertrauenswürdigerscheint Da Morrona4 6 und Garrison47
die Tradition zu sein, die von einer Besitzergreifung durch pisanische Truppen im Castello Camaiore di
Lombrici berichtet. Mit der Annahme einer auf das Jahr 1225 zu beziehenden Überführung aus der in der
Umgebung von Lucca gelegenen Festung stimmt der Stilbefund des Bildes überein, das Garrison zu den
Arbeiten Berlinghieros zählt. Nach seiner Meinung ist die gegenwärtige Gestalt der Tafel nicht ursprüng-
lich, da der jetzige Bogen ergänzt ist. Er hält es aber für möglich, daß die frühere Bildbegrenzung aus
einer in ein Rechteck einbeschriebenen Arkade bestand, womit sich die schon berührte Frage erhebt,
ob es sich um das Mittelstück eines Triptychons handelt, wie dies schon Da Morrona48 vermutet hat,
der die Ikone für das ehemalige Hochaltarbild der dem Patronat der Muttergottes unterstellten Kathe-
drale hält. Für seine Auffassung würde die Art der Inbesitznahme des Bildes sprechen, das man vielleicht
als religiöse Trophäe auf dem altare maggiore in dem der Vollendung entgegengehenden und die von
Pisa erlangte politische Machtstellung nach außen hin dokumentierenden Gebäude der Muttergottes
geweiht hat. Wie in Rom wäre es möglich, daß man aus diesem besonderen Anlaß die Ikone auf dem Hoch-
altar ausstellte. Eine ständige retabelhafte Aufbewahrung an diesem Ort ist jedoch wegen des kleinen
Formats und der nach besonderem Schutz verlangenden Beuteeigenschaft des Bildes wenig wahr-
scheinlich. Auch im Hinblick auf die römischen Gepflogenheiten ist eher an einen seitlichen Standort in
einem Schrein und die nur gelegentliche Aussetzung auf dem Hochaltar zu denken. Selbst ein 1359 in
Auftrag gegebenes Silberretabel ist nur zu besonderen Anlässen dort aufgestellt worden49.
Eine besondere Verehrung der Ikone ist schon für die Zeit der ersten zeitgenössischen Erwähnung
nachweisbar50. Als Karl VIII. von Frankreich 1494 den Pisanern die Befreiung von der florentinischen
Herrschaft gewährte, wurde die Tafel in einem großen Festzuge mitgeführt und die Muttergottes im
Dom feierlich zur Schirmherrin der Stadt erklärt. Um an diese Ereignisse zu erinnern, prägte man eine
Münze, die den Kaiser als Rex Pisanorum bezeichnete und auf der anderen Seite die Madonna mit der
Inschrift wiedergab: „Protege Virgo Pisas“51.
An einem „pilastro sotto l’organo“, von dem sich der heute noch gebräuchliche Beiname herleitet, scheint
die Ikone den Brand von 1595 überstanden zu haben52. Wenige Jahre später (1604) wurde für sie auf der
linken Seite neben dem altare maggiore ein eigener Altar geschaffen. Die Art ihrer Verehrung ist uns um
die Mitte des 17. Jhs. in Formen überliefert53, wie sie kaum in Rom begegnen und nur ein Beispiel haben
im byzantinischen Bilderkult der Frühzeit, wo wir bei dem Zeremoniell des Christusbildes aus Edessa
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