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9. ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSS

Das Dekorationssystem der Kirche macht den Gläubigen das theologisch-kosmologische System in seiner
Ganzheit gegenwärtig1 und gibt ihnen den Standort an, den sie in der „hierarchy of places“ einnehmen2.
Den vornehmsten Platz hat das Zentralbild mit der Darstellung Christi. Wenn der Betrachter es in
der Hauptkuppel oder der mittleren Konche erblickt, sieht er sich dem Allherrscher gegenüber, der
auch Ursprung und Ziel seiner Existenz ist und der den Forderungen, die die Kirche an ihn heran-
trägt, ihre Gültigkeit verleiht. Unter dem Konchenmosaik thront der Bischof und übt das Lehr-
amt aus. Am Altar vollzieht der Priester das Meßopfer. Unter ihrer Leitung wendet sich der Gläubige
nicht in individuellem Gebet, sondern in der sprachlich durch die Liturgie geregelten Form an den
Herrn, dessen sakramentaler Leib ihm auf dem Höhepunkt der Kultfeier zum Empfang dargeboten wird.
Hiermit nimmt der bisher überindividuelle Bezug die Form einer ganz persönlichen Vereinigung an,
die der einzelne nun aus eigener Kraft von sich aus fortsetzen muß. Die Kirche hält aber auch An-
dachtsorte bereit, die dem persönlichen Gebet dienen sollen. In ihnen findet der Gläubige in all
seinen Nöten eine Zufluchtsstätte, wo Christus, die Muttergottes oder andere Heilige gleichsam eine
Audienz gewähren und Bitten entgegennehmen.
Eine wesentliche Rolle spielen dabei die hier aufbewahrten Bilder. In der Andacht, die Panofsky3
als „Verschmelzung des Subjekts mit dem Objekt“ definiert, sind sie bei der angestrebten geistigen
Vereinigung der äußere Konzentrationspunkt, ähnlich wie die Hostie, die als stofflicher Mittler die
eucharistische Kommunion ermöglicht. Im Unterschied zu dieser bedeuten sie aber nichts weiter als
ein bloßes Bindeglied, dessen Verhältnis zum dargestellten Gegenstand im Osten jedoch sehr viel enger
als im Abendland aufgefaßt wird, da die Ikone dazu bestimmt ist, die wahre Erscheinung des Urbildes
zu tradieren4. In Italien sucht man vornehmlich durch die Beigabe von Reliquien den Wert der Ikone
über die bloß bildliche Darstellung zu steigern. Die in einem Sepulcrum aufbewahrten Reliquien sind
eine Art Unterpfand der geistigen Gegenwart des Heiligen beim Beter, der vor dem Bilde seine Unter-
stützung erbittet5.
Oft werden die Andachtswinkel als Orte betrachtet, an denen Bitten nicht nur gestellt, sondern auch
gleich erfüllt werden. Der Glaube an stattgefundene Gebetserhörungen verleiht der Ikone den Ehrentitel
eines Gnadenbildes6, dem das Volk zuweilen selbst „wundertätige“ Kräfte zuschreibt. Auf Grund der
Ähnlichkeit des Aussehens schließt die primitive Vorstellung leicht auf eine Verwandtschaft des Wesens,
geleitet von dem Gedanken, daß ein Teil der Machtfülle der dargestellten Person auf den Gegenstand
übergegangen sei, der nun selbst als Träger autonomer Wirkfähigkeit aufgefaßt wird. Statt der geforderten
Transzendierung der Ikone in Richtung auf das abgebildete Objekt bleibt das Bewußtsein an dem
Gegenstand haften, der nur als Brücke hatte fungieren sollen.
Um zu zeigen, daß man solche Mißverständnisse vermeiden und fetischistischen Degenerationserschei-
nungen in der Bilderverehrung vorbeugen will, wird in Siena in einer Beischrift betont, die im Kopf
des 1337 von Lando di Pietro gefertigten Kruzifixes vom Hochaltar der Kirche S. Bernardino
all’Osservanza in Siena gefunden wurde: „Et Lui (Christus) dovemo adorare et non questo legno“7.
Das Bild hat in dem Hinweis auf die Person die es wiedergibt und der Bindung der Aufmerksamkeit
an sie seinen Zweck erfüllt. Der Anblick des Abbildes soll dem Beter das Finden der Beziehung erleichtern
und ihm das Gefühl der Einseitigkeit bei dem von ihm angestrebten Verhältnis nehmen. Ähnlich dem
Kaiserbild, das, in die Provinz verschickt, die dem Kaiser zugedachten Ehrungen entgegennimmt,
übt es eine Stellvertretung aus, indem es dazu beiträgt, dem vor ihm knieenden Gläubigen den Eindruck
nahezubringen, daß sein Gebet nicht ein bloßes „Beten zu“, sondern ein wirkliches Gespräch mit Gott
oder einem Heiligen ist.
Hier findet jedoch die Legende wieder einen willkommenen Ansatzpunkt, die in der Vita der Heiligen
Gregor und Franz, aber darüber hinaus auch in vielen anderen Fällen, von „sprechenden“ Darstellungen
berichtet.
Bei dem hl. Franz ist die Spontaneität seiner Vorstellungen so stark, daß sie häufig des Bildes als Anreger
nicht mehr bedarf. Schon der bloße Gedanke an die Not Mariens am Weihnachtstage brachte ihn zum
Weinen8 und löste damit eine fast so starke Gemütsbewegung bei ihm aus, als nähme er an dem Ereignis
teil. Dasselbe wird von ihm bezüglich der Passion Christi überliefert9.

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