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Universität Heidelberg [Editor]
Akademische Mitteilungen für die Studierenden der Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg: Sommer-Halbjahr 1905 — 1905

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https://doi.org/10.11588/diglit.74187#0070
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1905

Heidelberger Akademische Mitteilungen

Nr. 9

Wir möchten nun anregen, ob es nicht möglich wäre,
dass in den „Akad. Mitteil." ein ausführliches Protokoll
jener Ausschusssitzung erscheint, das ja, wenn auch
kurz, nach § 32 der Statuten jedesmal veröffentlicht
werden soll. Dadurch wäre es der Studentenschaft er-
möglicht, sich ein Bild davon zu machen, wie die Stim-
mung für und wider die konfessionellen Verbindungen
im weiteren Ausschuss ist. Auch möchten wir die Frage
aufwerfen, ob nicht eine allgemeine Studentenversamm-
lung zustande käme, die diese wichtige Sache noch ein-
mal erörterte. Pfitzer.
Akademische Freiheit, Freie Studenten.
Schaft und konfessionelle Verbindungen.
Von Paul Thorbecke.
(Schluss)
Heute ist jene Sonderstellung beseitigt. Zuständig
sind für den Studenten — genau so wie für jeden an-
dern Staatsbürger — in allen bürgerlichen Rechts-
streitigkeiten und in Strafsachen die ordentlichen Ge-
richte. Und das haben wir wahrlich nicht zu be-
dauern. Dem Rektor und Senat ist aber die akade-
mische Disziplinargewalt — der Rest der alten akade-
mischen Freiheit — verblieben.
Was ist aber an die Stelle jener von der Zeit weg-
gefegten akademischen Freiheit getreten? Andere
Zeiten haben andere Anschauungen hervorgebracht!
Was heute den Universitäten ihren Charakter auf-
drückt, ist kein juristischer Begriff mehr wie im Mittel-
alter: Es ist für den Lehrer die Lehrfreiheit und für
den Studenten die Lern- und Lebensfreiheit, diese
letztere allerdings noch gebunden durch die akademische
Disziplinargewalt. Auf die Lehrfreiheit brauche ich
hier nicht weiter einzugehen: Die Kenntnis ihrer Ent-
wicklung sollte, meine ich, Gemeingut der Nation sein.
Die Wissenschaft muss frei sein, darin stimmen wir
alle überein: „Unsere Wissenschaft ist die freieste der
Erde", schrieb H. v. Treitschke, „sie duldet einen
Zwang weder von aussen noch von innen!"*) Dass wir,
Anhänger des freistudentischen Gedankens, denjenigen
als unsern Gegner ansehen, der aus politischen oder
religiösen Gründen an der Lehrfreiheit zu rütteln
sucht, ist selbstverständlich!
Und wie steht es mit der Lernfreiheit: Der Haupt-
grund, der gegen sie ins Feld geführt zu werden pflegt,
dass der Student von ihr sich die Freiheit ableite,
überhaupt nichts zu tun, beruht doch vor allem auf der
vollkommenen Verkennung ihres Wesens. Die Worte,
mit denen Ziegler diese Freiheit charakterisiert, haben
mir so gut gefallen, dass ich sie Ihnen nicht vorent-
halten möchte: „Nachdem der Knabe 12 Jahre lang ge-
lernt hat, arbeiten zu müssen, soll der Jüngling nun
lernen, arbeiten zu wollen." Es ist kein Märchen,
sondern es ist eine Binsenwahrheit, dass derjenige, der
sich dem Universitätsstudium widmet, in eine Gemein-
schaft eingetreten ist, deren Angehörigen zum grossen
Teil, jeder in seinem Berufe, später eine führende Stel-
lung einnehmeii wollen. Wer aber Führer des Volkes
werden will, darf nicht mit Scheuklappen
durch seine Studienjahre gehen, darf während
der Vorbereitung zu seiner zukünftigen Lebensstellung
nicht eingeengt werden durch engherzigen Lernzwang:
Er muss sich selbst den Weg bahnen, muss sich selbst
die Freiheit seiner Arbeit zu gestalten suchen, und er
soll eben gerade dadurch, dass er mit Einsicht und
Energie diese Freiheit richtig benützt, das Recht sich
erwerben, andern Führer zum Rechten und Wahren zu
*) cf. von Treitschke, Historische und politische Aufsätze.
4. Aufl. Leipzig 1871, Seite 21.

sein!*) Selbsterziehung und Bildung soll sich der
Student aneignen; ihre Voraussetzung aber ist die
Freiheit.**)
Wie stehen die Freien Studentenschaften, die
Organisationen der Nichtinkorporierten, zu der Lern-
freiheit und wie stehen die konfessionellen Verbind-
ungen zu ihr? Ich möchte diese Frage der Einfach-
heit und Kürze halber zusammen mit der Behandlung
der studentischen Lebensfreiheit beantworten. Was
ist denn studentische Lebensfreiheit? Ein Schlag-
wort, mit dem man alles Mögliche bezeichnen kann!
Verstanden wird darunter das Recht jedes Studenten,
seine Meinung zu äussern, ein gleichberechtigtes Glied
der civitas academica zu sein, Versammlungen abzu-
halten und sich in Vereinen zusammenzuschliessen, —
alles allerdings im Rahmen der noch bestehenden aka-
demischen Disziplinargewalt. Also — um alles kurz
zusammenzufassen — Diskussions- und Koalitions-
recht, Recht der Kommunikation der einzelnen Hoch-
schulen mit einander!
Wie steht dazu die Freie Studentenschaft?
Ich weiss nicht, ob Ihnen allen das Programm der
Freien Studentenschaft bekannt ist. Die Leipziger
Finkenschaft, die erste und eine der blühendsten
freistudentischen Organisationen, hat sich zur Devise
den Satz gewählt: „Vivat membrum quodlibet!", ein
Losungswort, das ihr Bismarck beim Huldigungszug
der deutschen Studentenschaft 1895 gegeben. Was
heisst das anderes, als dass das oberste Gesetz einer
jeden Finkenschaft Toleranz ist; die Finkenschaft
sieht in jedem Studenten einen gleichberechtigten aka-
demischen Bürger, der Anrecht auf Geltung und Achtung
hat, nicht vermöge des Bandes oder der Mütze, die er
trägt, nicht infolge etwaiger Zugehörigkeit zu einer
studentischen Sondergruppe, die den Anspruch erhebt,
mit besonderen Vorrechten kraft der Tradition und der
gesellschaftlichen Stellung ausgestattet zu sein, sondern
einzig allein seinem individuellen Werte entsprechend.
Was heisst jenes Wort: „Vivat membrum Quodlibet"
anderes, als dass jeder Student, in ungehemmter Frei-
heit seinem innern Drange folgend, sich ausbilden und
entwickeln kann? Das freistudentische Programm, das
auch die hiesige Freie Studentenschaft bei der Grün-
dung als das ihrige anerkannt hat, das Wittenberger
Finkenschaftsprogramm (1900), führt jenen Satz noch
weiter aus und sagt: „Jeder Student ist ein an und für
sich gleichberechtigtes Mitglied der Gesamtstudenten-
schaft ohne Rücksicht auf seine politische und religiöse
Ueberzeugung". Und im ersten Bericht der Leipziger
Finkenschaft (1899) stehen die Worte: „Das war der
Grundsatz, weder politische noch religiöse Tendenzen
in der Finkenschaft grosszuziehen. Burgfriede soll
herrschen in diesen Dingen und Achtung vor der gegen-
seitigen Ueberzeugung der Kommilitonen." Es bekämpft
also die Finkenschaft, dass politische oder religiöse
Fragen in den Vordergrund des studentischen Lebens
gestellt werden; sie bekämpft es, weil sie der Ansicht
ist, dass der Student während der Lernzeit nicht ein-
seitig ausgebildet werden, sondern sich selbst seinen
Weg bahnen soll. Wird aber der Student, der sicher
bei Beginn des Studiums noch nicht die Fähigkeit hat,
eine feste Ueberzeugung in jeder Hinsicht auszu-
sprechen, von Anfang seiner Studienzeit an auf eine
bestimmte politische oder religiöse Ansicht festgelegt,
so wird dadurch auf seine Entwicklung ein künstlicher
Zwang ausgeübt.
Mit dieser Erläuterung ist die Stellung der Finken-
scliaft zu den konfessionellen Verbindungen gegeben.

*) cf. Paulsen, Seite 339.

**) cf. Paulsen, Seite 340.
 
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