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Sonntag, 19. September

1852.


durch die




%» Dr. G, Weber über das natio-
nale Element in der Bürger-
und Volkserziehung.

Wir haben bereits in Nro. 198 unſers
Journals bei Gelegenheit der diesjährigen
vrüfungen unferer höhern Bürgerſchule auch
der gehaͤltvollen Rede gedacht, mit welcher
der Director der Anſtaͤlt, Herr Profeffor
Dr. G. Weber, das Schuljahr 1851/52
ſchloß! Die hohe Wichtigkeit des dort be-
handelten Gegenſtandes führt uns heute
nochmal auf jene Rede zurück um den da-
ſelbſt angeregten neuen Erziehungsweg in
ausführlicheren Umriſſen darzulegen.

Schon in unſerm erſten Berichte ſagten
wir . daß , nach Weber, weder der klaſſiſche
Formalismus, noch der praktiſche Reatis-
mus, noch auch die ſirengzkirchliche Bildung
in ihrer einſeitigen Methode, obgleich
jeder von dieſen Richtungen eine lebensfaͤhige
Berechtigung zu Grunde liege alg die rich-
iigen Wege zur Volks- und Menfchenerziebh-
ung angefehen werden koͤnnen. Man müße
ein ‚neues Element herbeiziehen, welches
den weltbürgerlichen Standpuntt des Hu-
manitätsprineips mit der Gegenwart ver-
mittele, dem Realismus die ethiſche Grund-
lage und der chriſtlichen Religionslehre den
praktiſchen Boden biete! Dieſes neue Ele-
ment ſei in einer national-geſchicht-
lichen und in einer vaterländifh=1i=
terariſchen Erziehung zu finden.

Herr Director Weber haͤtte auf unfre
ausdruͤcklich an ihn gerichtete Bitte die
Freundlichkeit, uns das Manuſeript ſeines
Vortrags zur Einſicht zu überlaſſen, und
wir glauben keine Indiscretion zu begehen,
indem wir demſelben eine hierher bezüg-
liche Hauptſtelle wörtlich entnehmen! Sie
lautet:

Wir müſſen die deutſche Geſchichte in
das Volksbewußtſein zurückführen und Herz
und Geiſt der Jugend an den edlen Er?
zeugniſſen unfrer Zichter und Denker bil-
den und ſtärken. Wir müſſen inſofern dem
Humanitaͤtsprineip entſagen, als wir den
Standpunkt des erſchlaffenden Welibürger-
thums aufgeben, wir müſſen ihm aber in-
ſofern treu bleiben, als Wir nicht das weiche
jugendliche Gemüth in die Zwangsjacke des
doufeſſtonellen Bekenntniſſes ſchuuten und
die Thaten und Beſtrebungen vergangener
Geſchlechter und das reichẽ Seelenleben ed-
ler Perſoͤnlichkeiten nur unter der trüben
Faͤrbung und der engherzigen Degrenzung
firchlicher Lehrbegriffe ihm zuführen, Die
Gefchichte unſets Baterlandes bietet große
und herrliche Erſcheinungen, ganz geeignet,
das empfängliche Herz ' der, . Yugend - mit
Nationakgefühl und vaͤterländiſcher Geſin
nung zu füllen und jenen edien Stolz zu
eräeugen, an Ddem. e$ ung fo fehr gebricht
und der bei allen grohen Bölfern der alten
und neuen Welt Ddie unverfiegbare Quelle
glänzenDer. , Heldenthaten \ gewejen iſt; und
die Zeiten unſerer nationalen Erniedrigung
und unferer Zerriſſenheit haben wenigftens
das Guͤte, daß ſie die Nothwendigkeit der
. Eintracht aller deutſcheu Stämme ung Taut

uͤyd vernehmlich zurufen. Wir brauchen
nie über die Thaͤten unſrer Borfahren zu

exröthen, aber beklagen müſſen wir oft die
Verblendung, in welcher der reiche Schatz
von Kraft und Treue zu unwürdigen Zwe-
cken und zu gegenſeitiger Schwächung mif-
braucht ward. Und alg Erſatz für unfere
Armuth an politiſcher Klugheit und vaier-
ländiſchem Gemeinſinn hat uns die gütige
Gottheit, die kein Volk leer ausgehen läßt
und dem Streben nach Wahrheit und der
göttlichen Flamme in der menſchlichen Seele
auf die mannigfaltigſte Art foͤrdernd ent-
gegenkommt, den innern Reichthum verlie-
hen als deſſen Verkünder und Propheten
unſre großen Dichter und Schrifiſieller da-
ſtehen Und dieſen Reichthum, dieſe Fülle von
Ideen, dieſen edeln Schatz von erhabener
Schönheit ſollten wir ung durch Kargen
und engherziges Markten gegenſeitig ver-
kümmern? Wir ſollten ihren Genuß der
Jugend nur ſpärlich geſtatten oder gar vor-
enthalten, weil nicht alle auf dem Boden


Bekenniniſſes wurzeln? Solche Anfichten
mögen fern bleiben von der Schule und
ihren Lenkern! Nichts thuͤt dem deuiſchen
Volke mehr Noth als Selbſterkenntniß und
Selbſtachtung, und kein Volk wurde mehr
angewieſen, von fremden Broſamen zu le-
ben und das eigene Licht unter den Schef-
fel zu ftellen, als das veutſche! Es iſt auch
nicht naͤchgewieſen, wie viel die Vernach?
läſſigung der deuiſchen Geſchichte auf unſern
Schulen und die kaͤrgliche und die geiſtloſe
Behandlung unſerer klaſſiſchen Literatur vor
der warmfuͤhlenden Jugend Schuld hat an
dem Mangel der Vatertandeliebe und des
nationalen Gemeingeiſtes, die wir in ſturm-
vollen Zeiten ſo oft behehrt und ſo ſelten
gefunden haben! Wir baben im Schulwe-
fen ſchon jo manche Verſuche angeſtellt, de-
ren zweideutiger Erfolg nicht ſchwer vor-
auszuͤſehen waͤr; es lohnte ſich wehl der
Mühe,. aucdh die vaterlaͤndiſch geſchichtliche
Bildung einmal zur Grundlage der deui-
ſchen Jugenderziehung zu maden. Iſt das
deuiſch? Volk trog der pädagogiſchen Miß-
griffe bis jetzt in ſeinen geiſtigen Errungen-
ſchaften nichi zu furz gekommen, ſo wird
diefer Verſuͤch ſicherlich das Erworbene nicht
gefährden oder dermindern; ſellten aber
ünſetm Verlangen politiſche Bedenken in
den Weg Ireten, ſo möge Man erwaͤgen,
daß Treue zwiſchen Fuͤrſt und Volt und
Achtung der gegenſeitigen Rechte und Pflich-
ten nirgendS fo eindringlich gelehrt wird,
als in der deutſchen Gejhichte.“ — —
„Um das vaͤterländiſche Gefühl in der
Jugend zu wecken und zu kräftigen/ müßte
man den ganzen Unterricht mehr concen-
tiren und mit dem deulſchen Land und


deutſche Sprache und Literatur, die deut-
Ide- Geſchichte und Erdkunde müßte den
Mittelpunkt des untertichts bilden und bei
allen übrigen Lehrzweigen die eine territo-
riale und voͤlkergeſchichtliche Behandlung
zulaffen, müßte die heimathliche, Seite ſtetẽ
in den Vordergrund treten. Würde ſchon
in dem erſten Jugendalter das deutſche
Land in ſeiner natürlichen Beſchaffenheit
zur Kenntniß gebraͤcht, ſo könnte man in

den folgenden Stufen der Naturgeſchichte
zum Theil an die Erdbeſchreibung des Va-
terlandes anknüpfen und das Neue mit
dem früheren in Verbindung bringenz die
deutſche Geſchichte in einer dem juͤgendli-
chen Faſfungsvermögen entſprechenden Be-
handlung würde duͤrch die vorausgegangene
zevgraphiſche Belehrung ſich auf befannten
Gebieten bewegen und in die undelebte
Natur Handlung und Leben bringen; die
deutſche Heimathekunde würde dann nicht
mehr eine intereſſeloſe Zuſammenſtellung
ſtatiſtiſcher und geographiſcher Notizen ein
bloſes Gedächinihwerk fein, Land und Volk
wuͤrden als ein unzertrennliches Ganze von den
mannigfachſten Wechſelwirkungen erſcheinenz
in die Geographie käme durch die Verbin-
dung mit der Geſchichte Handlung und Be-
wegung und die Geſchichte würde durch die
fortwährende Hinweiſung und Anknüpfung
am den hohen vaterländiſchen Boden vden
Charakter der Dauer und Stetigkeit em-
pfangen; die Vergangenheit würde fomit
nicht als eine entſchwuͤndene Zeit oder als
eine Gedenktafel untergegangener Geſchlech-
ter und überlebter Zuflände, ſondern alg
eine in ihren Werken und Thaͤten noch
fortlebende Welt erſcheinen; die jugendliche
Phantaſie würde ſomit das Große aller
Zeiten an die Gegenwaͤrt anknüpfen koͤn⸗
nen, — Dann dürfte auch die deutſche
Sprache nicht länger aleich einem Leichnam
dem zergliedernden Meſſer moderner Sprach-
künſtelet überantworter werden, fondern ſie
müßte wie ein majeſtättſcher Bau in ihrer!
imponirenden Kraft und Größe in der Weife am
dem Verſtaͤndniß der Jugend vorgefühtt
werden, daß die ſchöne Harmonie des Gan-
zen durch die bunte Mannigfaltigkeit der
Theile nicht geſtört oder verhüllt würde,
ſondern erſt recht zur Anſchauung käme;
der Sprachunterricht müßte durch Eingehen
auf das Sprach und Geiſtesleben der Na-
tion und ihrer ſtimmführenden Stämme den
Boden beſtellen für die vaterländiſche Lite-
ratur und für das Verſtaͤndniß der klaſſt-
ſchen Dichter und Schriftſteller früherer und
jetziger Tage. Würde man auf diefe Waiſe
von verſchiedenen Seiten nach e inem Ziel
hinſtreben und dieſes Ziel mehrere Jaͤhre
hindurch methodiſch verfolgen ſo würde
unſre Volksbildung einen vaterländiſchen
Charakter annehmen, der den Keim Fünftis
gen Gluͤcks und künftiger Größe in ſich
trüge.“ } ;
Wir zweifeln mit Herrn Director Weber
nicht daran, daß dieſe neue ECrziehungsme-
thode, obgleich ſie zur Zeit noch auf man-
nigfaͤche Entgegenfiebende Elemente ſtoßen
dürfte, ſich mit der Zeit in den öffentlichen
Schulen Eingaͤng und Geltuns verſchaffen
und reichlichen Segen und berrlichen Ge-
winn für die deuiſche Jugend und Ddie Fühf
tigen Geſchlechter erzeugen wird. Möchten
jeht ſchon alle Schulmänner die Erziehungs»
principien Wehers, unſers erprobten und
für daͤs Aufbluͤhen unſerex hoͤheten Bürz
zerſchule ſo verdienten BVorftandes, *4
Erwägung werth halten! Denn die *
ift, wie der praktiſche Nedner —
merft, einer der wichtigſten Factoren der
 
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