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Heidelberger Jahrbücher der Literatur — 33,1.1840

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No. 13
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https://doi.org/10.11588/diglit.41297#0216
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208 Prokcsch von Osten, Denkwürdigkk. u Erinnerungen aus d. Orient,
solchen Starrsinn vielleicht lachen, vielleicht sich auch erzürnen 5
er bleibt aber nichts desto weniger eine wichtige Erscheinung,
vielleicht sogar eine wichtige Phase im Entwickelungsgang der
christlichen Lehre als Gegengewicht und Hemmschuh dem um-
wälzenden Sinn der abendlichen Welt entgegengestellt. Bedenkt man
auch noch, dass heute mehr als sechzig Millionen Menschen und
ein frisch aufblühendes Weltreich dieser Meinung huldigen, und
gleichsam mit den Waffen in der Hand das starre Glaubensbe-
kenntnis der Anatoliker zu stützen bereit sind, so darf man mit
Beseitigung alles Leichtsinnes hierin vielleicht den Keim einer in-
haltsvollen Zukunft erkennen. Denn eine reine, langefort ohne
Aenderung und ohne Schwanken, in guten und bösen Tagen gleich
festgehaltene Meinung besitzt zuletzt eine unwiderstehliche Kraft,
nicht blos zur Verteidigung, sondern auch zum Angriffe, beson-
ders wenn sich eine intelligente Leitung des Ruders bemächtiget
und ein genialer Mann sich an ihre Spitze stellt. „Moskwa,“
sagte am Ende des 16. Jahrhunderts der Grossfürst Boris Godunow,
„ist seit Konstantinopels Fall das wahre orthodoxe Rom gewor-
den, und alle Gläubigen der griechischen Kirche mussten für den
Tzar von Moskovien beten, als den einzigen christlichen Souve-
rän auf dem Erdboden.“ — Die Wiedergewinnung der geheilig-
ten Stadt Constantin’s, des Ursitzes und Mittelpunktes des wah-
ren Glaubens, gilt nicht nur als unverjährbares Recht, sondern als
vorzüglichste Regentenpflicht der Nachfolger Godunows. Und
diese religiöse Aufgabe hat einen um so höhern Reiz, und ist um so
leichter zu erfüllen, da sie mit den politischen Gefühlen, oder viel-
mehr mit dem Nationalinstinkt der slawischen Völker zusammen-
fällt. Namentlich aber scheint jener eben so zahlreiche als krie-
gerische Stamm, der heutzutage an der Spitze der Slawen steht,
die ausdrückliche Mission zu besitzen, die irdische Residenz Chri-
sti in seine Gewalt zu bringen. Der bleibendste und unzerstör-
barste Zug im Leben dieses Volkes ist sein Streben Tsarigrad
einzunehmen und seine Wohnsitze in den Ländern des byzantini-
schen Reiches aufzuschlagen. Mit nicht zu besänftigender Wuth
ängstigte es zwei Jahrhunderte lang (von 9—11 saecul.) Con-
stantinopel durch seine Heerzüge, und weder Unglück noch Be-
kehrung zum Christenthum konnte seinen Arm entwaffnen.

( Fort set z un g folgt.)
 
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