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Historisch-Philosophischer Verein <Heidelberg> [Editor]
Neue Heidelberger Jahrbücher — 4.1894

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Erb, Wilhelm Heinrich: Ueber die wachsende Nervosität unserer Zeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.29035#0019
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Ueber die wachsende Nervosität unserer Zeit.

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handelt. Der Neurastheniker kann zunächst fast alles machen wie ein
Gesunder, aber er ermüdet sofort, er ist rasch erschöpft und wird die
Ermüdung nicht mehr los; zudem reagirt er auf alle Reize in gestei-
gertem Masse und das wirkt wieder verschlimmernd auf seine Ermüdung
und Erschöpfbarkeit zurück.

Und so liegt es nicht blos für den Laien sondern auch für den

— hier allerdings noch recht mangelhaften — Stand des ärztlichen
Wissens sehr nahe, die Neurasthenie mit der Ermüdung zu vergleichen
und sie als eine pathologische Steigerung und Fixirung
der Ermüdung aufzufassen. Die Erfahrungen des täglichen Lebens
während physiologischer Ermüdungszustände, ebenso wie die Erfahrungen
der Physiologen an ermüdeten und absterbenden Nerven lassen es dabei
begreiflich erscheinen, dass auch die gesteigerte Keizbarkeit mit diesen
Ermüdungsvorgängen in einer engeren Beziehung stehe und das für
solche Zustände gebrauchte Wort: „reizbare Schwäche“ deckt diesen
Begriff ziemlich gut.

Ueber das eigentliche Wesen dieser Vorgänge sind wir allerdings
noch im Unklaren; aber ebenso wenig, wie wir bei der physiologischen
Ermüdung gröbere anatomische Veränderungen in den Nerven und
Muskeln voraussetzen dürfen, können wir dieselben bei der Neurasthenie
erwarten; vielmehr spricht alles dafür, dass es sich hierbei nur um
feinste, moleculare, mit unsern Hülfsmitteln zunächst nicht nachweis-
bare Veränderungen handelt, die wohl dem Chemismus des Stoffwech-
sels angehören; mithin um das, was wir functioneile Störungen
nennen.

Also erhöhte Keizbarkeit auf der einen, grosse Schwäche,
E r m ii d u n g und Erschöpfbarkeit und daraus sich ergebende v e r-
minderte Leistungsfähigkeit auf der andern Seite bilden die
Signatur der Neurasthenie; und da nun diese Zustände sich in allen
Theilen des Nervensystems, am Gehirn, an Geist und Gemüth, an den
Sinnesorganen, am Rückenmark und den sympathischen Nerven, am
Circulations- und Gefässapparat, am Verdauungs- und Generationssystem

— kurz überall im Körper — einstellen können, da sie durchaus nicht
immer gleichzeitig über alle die genannten Organe verbreitet sind,
ergibt sich daraus die geradezu unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des
Symptomenbildes der Neurasthenie, mit dem ich mich aber hier nicht
zu beschäftigen habe.

Die folgenden Betrachtungen beziehen sich nun zumeist auf diese
 
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