Wilhelm Erb,
Alle diese Dinge, die Schwäche, Erschöpfbarkeit und gesteigerte
Reizbarkeit sind aus physiologischen (normalen) Verhältnissen Jedermann
bekannt und geläufig; dass sie in gesteigertem Masse vorhanden sind,
dass sie bleibend bestehen, dass sie auf geringfügige Veranlassungen in
die Erscheinung treten, das charakterisirt die Neurasthenie.
Einige Beispiele werden das deutlicher machen: hat der Gesunde
einen grossen Marsch, eine anstrengende Bergtour gemacht, so ist er
müde und erschöpft; aber diese Ermüdung schwindet nach genügender
Ruhe vollständig; erscheint dieselbe jedoch schon bei ganz geringer
Anstrengung, oder sie ist selbst ohne jede Anstrengung schon da und
verschwindet sie trotz längerer Ruhe nicht oder nur unvollständig, so
ist das pathologisch: — Jeder von Ihnen weiss, dass nach starken
geistigen Anstrengungen, nach schweren Gemüthsbewegungen, Aufregungen
oder Nachtwachen ein Zustand geistiger Ermüdung, Denkunfähigkeit,
Willenserschlaffung, verbunden mit Druck und Schmerz im Kopfe, ein-
treten kann; der Gesunde überwindet das bald, das Gehirn erholt sich
in der Ruhe rasch — geschieht dies nicht, besteht ein solcher Zustand
schon nach geringen geistigen oder gemüthlichen Anstrengungen, so ist
das krankhaft; — wenn ein junger Mann der Geliebten schüchtern sein
Geständnis macht, so ist es begreiflich, dass er Herzklopfen und Be-
klemmung fühlt, erröthet und erbleicht: wenn aber die gleichen Erschei-
nungen auftreten bei der Begegnung mit irgend einer gleichgültigen
Person, während einer harmlosen Anfrage bei dem Vorgesetzten, wenn
sie ihrem Träger das Leben und den Verkehr mit Andern verbittern,
so ist das pathologisch; — wenn schwere Sorgen, Kummer, verantwort-
liche Entscheidungen dem Gesunden den Schlaf rauben, so ist das
physiologisch; wenn aber der Schlaf einen Menschen andauernd flieht,
der nichts von alledem zu erdulden oder nur eine geringfügige Erregung
erlitten hat, dann ist dies krankhaft; — wenn jemand auf schwindeln-
dem Steg oder beim Fahren mit wilden Pferden auf gefährlicher Strasse,
oder inmitten der Blitze eines Hochgebirgsgewitters Angst, Todesangst
empfindet und unterzugehen fürchtet, so finden wir dies natürlich; wenn
ihn aber dieselbe masslose Angst überfällt, sobald er über eine etwas
breite Strasse, oder einen menschenleeren Platz gehen soll, oder in der
Ferne ein Gewitter am Himmel entdeckt, oder hört, dass mit Böllern
geschossen wird, so sehen wir dies als ein Zeichen von Krankheit an.
Es mag an diesen leicht zu vermehrenden Beispielen genügen: sie
zeigen, dass es sich bei dem Neurastheniker um eine krankhafte
Steigerung und Fixirung physiologischer Vorgänge
Alle diese Dinge, die Schwäche, Erschöpfbarkeit und gesteigerte
Reizbarkeit sind aus physiologischen (normalen) Verhältnissen Jedermann
bekannt und geläufig; dass sie in gesteigertem Masse vorhanden sind,
dass sie bleibend bestehen, dass sie auf geringfügige Veranlassungen in
die Erscheinung treten, das charakterisirt die Neurasthenie.
Einige Beispiele werden das deutlicher machen: hat der Gesunde
einen grossen Marsch, eine anstrengende Bergtour gemacht, so ist er
müde und erschöpft; aber diese Ermüdung schwindet nach genügender
Ruhe vollständig; erscheint dieselbe jedoch schon bei ganz geringer
Anstrengung, oder sie ist selbst ohne jede Anstrengung schon da und
verschwindet sie trotz längerer Ruhe nicht oder nur unvollständig, so
ist das pathologisch: — Jeder von Ihnen weiss, dass nach starken
geistigen Anstrengungen, nach schweren Gemüthsbewegungen, Aufregungen
oder Nachtwachen ein Zustand geistiger Ermüdung, Denkunfähigkeit,
Willenserschlaffung, verbunden mit Druck und Schmerz im Kopfe, ein-
treten kann; der Gesunde überwindet das bald, das Gehirn erholt sich
in der Ruhe rasch — geschieht dies nicht, besteht ein solcher Zustand
schon nach geringen geistigen oder gemüthlichen Anstrengungen, so ist
das krankhaft; — wenn ein junger Mann der Geliebten schüchtern sein
Geständnis macht, so ist es begreiflich, dass er Herzklopfen und Be-
klemmung fühlt, erröthet und erbleicht: wenn aber die gleichen Erschei-
nungen auftreten bei der Begegnung mit irgend einer gleichgültigen
Person, während einer harmlosen Anfrage bei dem Vorgesetzten, wenn
sie ihrem Träger das Leben und den Verkehr mit Andern verbittern,
so ist das pathologisch; — wenn schwere Sorgen, Kummer, verantwort-
liche Entscheidungen dem Gesunden den Schlaf rauben, so ist das
physiologisch; wenn aber der Schlaf einen Menschen andauernd flieht,
der nichts von alledem zu erdulden oder nur eine geringfügige Erregung
erlitten hat, dann ist dies krankhaft; — wenn jemand auf schwindeln-
dem Steg oder beim Fahren mit wilden Pferden auf gefährlicher Strasse,
oder inmitten der Blitze eines Hochgebirgsgewitters Angst, Todesangst
empfindet und unterzugehen fürchtet, so finden wir dies natürlich; wenn
ihn aber dieselbe masslose Angst überfällt, sobald er über eine etwas
breite Strasse, oder einen menschenleeren Platz gehen soll, oder in der
Ferne ein Gewitter am Himmel entdeckt, oder hört, dass mit Böllern
geschossen wird, so sehen wir dies als ein Zeichen von Krankheit an.
Es mag an diesen leicht zu vermehrenden Beispielen genügen: sie
zeigen, dass es sich bei dem Neurastheniker um eine krankhafte
Steigerung und Fixirung physiologischer Vorgänge