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lieber geistige Arbeit*).

Von

Emil Kraepelin.

Wenn heute ein Schiff seine Probefahrt macht oder der Plan einer
elektrischen Beleuchtungsanlage entworfen wird, so pflegen wir mit der
Befriedigung des Kulturmenschen in den Zeitungen zu lesen, wie viel
indicierte Pferdekräfte der neue Panzer zu entwickeln vermag, oder wie
gross die Zahl der Bogen- und Glühlampen von bestimmter Lichtstärke
sein wird, welche voraussichtlich in Betrieb erhalten werden können.
Selten und nur innerhalb verhältnismässig enger Grenzen geht die Rech-
nung fehl. Bei solider Arbeit hält die Maschine genau, was ihr Erbauer
versprochen hat, und er ist sogar an der Hand gewisser Erfahrungen
im Stande, zu sagen, in welchem Masse sich allmählich ihre Arbeits-
leistung verändern, wann eine Erneuerung einzelner Teile nötig sein wird
und wie hoch sich der Verbrauch an Betriebsmaterial beläuft. Nur in
dieser letzteren Beziehung sind den Erzeugnissen unserer Technik jene
Maschinen ebenbürtig, welche Cartesius im Tiere und De la Mettrie
im Menschen erblickten. Wir wissen zwar ziemlich genau, welche Menge
von Nahrungsstoffen dieser oder jener Organismus verbraucht, aber wir
sind nur wenig im Klaren darüber, wie viel derselbe leistet und nament-
lich, wie viel er zu leisten im Stande ist.

Freilich wird ein erfahrener Militärarzt mit ziemlich sicherem Blicke
erkennen, ob der vor ihm stehende Mann den Anstrengungen des Dienstes
gewachsen ist. Der Kassenarzt giebt den Grad der Erwerbsfähigkeit
eines Halbkrüppels in Prozenten an, und wir können an den Kraftmessern
der Jahrmärkte leicht ersehen, wie hoch wir durch die Kraft unserer Arme
das Laufgewicht emporzuschnellen vermögen. Sobald es sich aber darum
handelt, die Höhe unserer geistigen Kraftleistungen abzuschätzen,
ein Mass für die sittliche oder Verstandesarbeit zu finden, sehen wir uns
vergebens nach dem Massstabe um, den wir anlegen, und nach der Ein-
heit, in welcher wir die geistigen Werte ausdrücken sollen. Ganz im

*) Nach einem am 15. Dezember 1893 zum Besten des Heidelberger Frauen-
vereins gehaltenen Vorträge.
 
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