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Luthers Thesenstreit.

Von

Adolf Hausratli.

Es giebt Partieen der Universalgeschichte, die dem Namen nach
jeder Gebildete kennt und von denen doch die allermeisten, näher be-
sehen, recht unzutreffende Vorstellungen aus der Schule ins Leben mit-
bekommen haben. Wer hätte nicht von Luthers 95 Thesen gehört und
selbst rühmend von ihnen geredet, aber wie viele ihrer Verehrer haben
sie auch wirklich gelesen P Man könnte auf sie mit leichter Namens-
veränderung Lessings bekanntes Epigramm anwenden: „Wer wird nicht
Luthers Thesen loben? Doch wird sie jeder lesen? — nein. Wir wollen
weniger erhoben und fleissiger gelesen sein.“ Sie wollen wirklich we-
niger erhoben sein als die thun, die sie nie gelesen haben, denn ihr
Verfasser selbst sagt bei einem späteren Abdruck: „Ich lass geschehen
und gut sein, dass meine Disputationen und Propositionen, die ich im
Anfang meiner Sache wider den Ablass gehandelt habe, an den Tag
kommen und ausgehen .... denn durch dieselben Propositiones wird
öffentlich angezeigt meine Schande, d. i. meine Schwachheit und Un-
wissenheit.“ In der That hat man von diesen Thesen eine ganz falsche
Vorstellung, wenn man in ihnen die Grundsätze in einiger Reinheit und
Vollständigkeit sucht, auf die Luther später seine Kirche gegründet hat,
oder sie gar als eine Proklamation kirchlicher Freiheit oder als eine Auf-
forderung zum Abfall vom Papsttum auffasst. Das sind sie nicht und
wollten sie nicht sein, vielmehr hat ihnen sogar der Bischof von Branden-
burg, der Hirte der Wittenberger Gemeinde, bezeugt, sie seien katho-
lisch und er vermöge nichts unkatholisches in ihnen zu entdecken. Die
katholischen Vorstellungen des Fegfeuers, des Schatzes der Kirche, der
Schlüsselgewalt werden in ihnen nicht bestritten, sondern näher begrün-
det und es ist im Wesentlichen der Standpunkt der mittelalterlichen
Mystik, von dem aus Luther den dürr gewordenen scholastischen Be-
griffen neuen religiösen Lebenssaft zuzuführen strebt.
 
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