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wisse mähliche Annäherung Bellinis an das Darstellungsproblem
Mantegnas erkennen. Auf der Pariser Zeichnung steht die Bahre
der Maria im Mittelgrund, auf der Londoner aber im nächsten
Vordergrund. Sollte Bellini die Ausdruckssteigerung nicht emp-
funden haben, die dasselbe Verkürzungsmotiv innerhalb des
nächsten Vordergrundes erfuhr?
So setzt denn Mantegna nur fort, was Bellini begonnen. Die
Leistung Mantegnas bleibt deswegen uneingeschränkt. Er erst
hat dem Motiv durch die Isolierung der verkürzten Figur seine
volle Ausdrucksmöglichkeit abgezwungen. Er erst hat ihm jene
Mächtigkeit gegeben, die das Bild fast sprengt und die vergessen
läßt, daß die Verkürzung ursprünglich ein Mittel der räumlichen
Einbeziehung, d. h. der Bedingnis der Erscheinung durch den
Raum sein soll. In der Tatsache der Isolierung wird man eine for-
male Neuerung sehen wollen, die zur Renaissance hinführt. In
der Art der Isolierung aber steckt keine Renaissanceproblematik.
Es scheint uns nicht unbedeutsam, daß Mantegna die jähe
Verkürzung gerade bei dem aufgebahrten Christus gibt, und daß
Jacopo Bellini dieselbe Verkürzung zweimal bei der Aufbahrung
der Maria gebraucht. Beide Male stellt Bellini die Bahre in einer
Halle auf. In der Pariser Zeichnung ist nach hinten der Blick auf
die Landschaft freigelassen, in der Londoner Zeichnung aber sieht
man hinten den Altar. Das ist die übliche Aufbahrung der Toten
vor dem Altäre bei der Feier des Totenoffiziums. Bellini hat zu-
dem noch durch die Aufstellung von Kandelabern an den vier
Ecken des Sarges an die kultische Begehung erinnert. Auch daß
die Apostel rechts und links vom Sarge in strengen Reihen stehen,
entspricht durchaus der gottesdienstlichen Ordnung, wie ein Blick
etwa auf die Gottesdienstdarstellung in den Heures de Turin
überzeugen mag6. Da stehen die Mönche in strengen Reihen vor
den Schiffsarkaden, während eine Prozession durch ihre Mitte in
der Orthogonale auf den Altar zu zieht7. Aber für den Vergleich
wichtiger sind Darstellungen des Totenoffiziums selbst. Sie fin-
den sich in Stundenbüchern häufig. Wir bilden ein Beispiel aus
der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ab: Paris, Bibi. nat. lat.
1160 f. 143 (Abb. 3) 8. Der Sarg steht zwischen Kandelabern ge-
6 ed. Paul Durrieu, 1902, pl. XXIII.
7 Diese Ordnung ist dann auch auf den himmlischen Gottesdienst über-
fragen worden, zumal in den sogenannten Ällerheiligenbildern.
8 V. Leroquais, Les Livres d’Heures.... Paris 1927, pl. LXXXIX. Vgl. die
Darstellung in dem niederländischen Sfundenbuch: Haag, Kgl. Bibi. 131 G 5
wisse mähliche Annäherung Bellinis an das Darstellungsproblem
Mantegnas erkennen. Auf der Pariser Zeichnung steht die Bahre
der Maria im Mittelgrund, auf der Londoner aber im nächsten
Vordergrund. Sollte Bellini die Ausdruckssteigerung nicht emp-
funden haben, die dasselbe Verkürzungsmotiv innerhalb des
nächsten Vordergrundes erfuhr?
So setzt denn Mantegna nur fort, was Bellini begonnen. Die
Leistung Mantegnas bleibt deswegen uneingeschränkt. Er erst
hat dem Motiv durch die Isolierung der verkürzten Figur seine
volle Ausdrucksmöglichkeit abgezwungen. Er erst hat ihm jene
Mächtigkeit gegeben, die das Bild fast sprengt und die vergessen
läßt, daß die Verkürzung ursprünglich ein Mittel der räumlichen
Einbeziehung, d. h. der Bedingnis der Erscheinung durch den
Raum sein soll. In der Tatsache der Isolierung wird man eine for-
male Neuerung sehen wollen, die zur Renaissance hinführt. In
der Art der Isolierung aber steckt keine Renaissanceproblematik.
Es scheint uns nicht unbedeutsam, daß Mantegna die jähe
Verkürzung gerade bei dem aufgebahrten Christus gibt, und daß
Jacopo Bellini dieselbe Verkürzung zweimal bei der Aufbahrung
der Maria gebraucht. Beide Male stellt Bellini die Bahre in einer
Halle auf. In der Pariser Zeichnung ist nach hinten der Blick auf
die Landschaft freigelassen, in der Londoner Zeichnung aber sieht
man hinten den Altar. Das ist die übliche Aufbahrung der Toten
vor dem Altäre bei der Feier des Totenoffiziums. Bellini hat zu-
dem noch durch die Aufstellung von Kandelabern an den vier
Ecken des Sarges an die kultische Begehung erinnert. Auch daß
die Apostel rechts und links vom Sarge in strengen Reihen stehen,
entspricht durchaus der gottesdienstlichen Ordnung, wie ein Blick
etwa auf die Gottesdienstdarstellung in den Heures de Turin
überzeugen mag6. Da stehen die Mönche in strengen Reihen vor
den Schiffsarkaden, während eine Prozession durch ihre Mitte in
der Orthogonale auf den Altar zu zieht7. Aber für den Vergleich
wichtiger sind Darstellungen des Totenoffiziums selbst. Sie fin-
den sich in Stundenbüchern häufig. Wir bilden ein Beispiel aus
der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ab: Paris, Bibi. nat. lat.
1160 f. 143 (Abb. 3) 8. Der Sarg steht zwischen Kandelabern ge-
6 ed. Paul Durrieu, 1902, pl. XXIII.
7 Diese Ordnung ist dann auch auf den himmlischen Gottesdienst über-
fragen worden, zumal in den sogenannten Ällerheiligenbildern.
8 V. Leroquais, Les Livres d’Heures.... Paris 1927, pl. LXXXIX. Vgl. die
Darstellung in dem niederländischen Sfundenbuch: Haag, Kgl. Bibi. 131 G 5