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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0100
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88 Otfried Hoffe

Aristoteles' weitere Neuerung besteht in einer zur Gerechtigkeit korrek-
tiven Tugend, der Billigkeit. In jenen Sonderfällen, in denen die Anwendung
eines allgemeinen Gesetzes zu offensichtlich nicht gerechten Ergebnissen führt,
fordert sie, vom Buchstaben des geltenden Rechts abzuweichen und den au-
ßergewöhnlichen Umständen Rechnung zu tragen.

Während alle Kulturen Recht und Gerechtigkeit hoch schätzen, spricht er-
staunlicherweise der überragende Rechts- und Gerechtigkeitsphilosoph Ari-
stoteles einem anderen Wert noch größeres Gewicht zu, das übrigens von Epi-
kur und der Stoa über das Mittelalter bis in die Neuzeit von vielen Denkern
übernommen wird; es ist die Freundschaft (philia). Auch andernorts, etwa
im indischen Mahabharata15 wird die Freundschaft hoch geschätzt. Aristo-
teles denkt keineswegs bloß an die romantische Seelenfreundschaft, vielmehr
an alle Formen persönlicher Beziehungen, sowohl an Jugendfreundschaft, Ka-
meradschaft und Gastfreundschaft als auch an Reisebekanntschaften, Ge-
schäftsbeziehungen und das Vereinsleben, ferner an die Zugehörigkeit zu
Familie und Nachbarschaft. Die Krönung bildet freilich die Freundschaft, die
man weder um des Nutzens noch der Lust, sondern um des Guten willen
pflegt.

Das gegenüber der Gerechtigkeit noch größere Gewicht der Freundschaft
erlaubt nicht etwa, in ihrem Namen „ein Auge zuzudrücken" und eine Freundes-
und Vetternwirtschaft zu betreiben. Das Recht bleibt die Grammatik des So-
zialen und die Gerechtigkeit samt Billigkeit deren personale Entsprechung.
Wie die Grammatik aber noch keine lebendige Sprache schafft, so braucht ein
Gemeinwesen zusätzlich zu Recht und Gerechtigkeit, dass man sich einander
nicht fremd, sondern Freund ist. Wo Freundschaft herrscht, kommt es weniger
zu Streit und Gewalt oder gar zu Bürgerkriegen; stattdessen pflegt man größere
Sorge füreinander. Die Freundschaft vertreibt nicht bloß die größte Bedrohung
eines Gemeinwesens, die Zwietracht (stasis), sondern stiftet als einen positiven
Wert die Eintracht (homonoia).

Der große politische Philosoph der Neuzeit, unser vierter Gipfel, Thomas
Hobbes, betont zunächst einmal drei Faktoren, die das Gegenteil, den Krieg,
hervorbringen: die Konkurrenz um knappe Güter, das Misstrauen in die Frie-
densbereitschaft der anderen und die Ruhmsucht, etwas formaler gesagt: den
Kampf um gegenseitige Anerkennung. Trotzdem macht der „übliche Hobbes",
der Krieg-aller-gegen-alle-Hobbes, nur die eine Hälfte aus. Denn der dreidi-
mensionalen Konfliktnatur steht eine ebenfalls dreidimensionale Friedensna-
tur gegenüber: die Angst vor einem gewaltsamen Tod, das Verlangen nach
einem angenehmen Leben und die Hoffnung, die dafür erforderlichen Dinge
durch Fleiß zu erreichen (Leviathan, Kapitel 13). Der Friede bleibt also ein
überragender Wert; nur zu seiner Sicherung, also friedensfunktional, führt
Hobbes den Wert des Rechts und subsidiär die zwangsbefugte Staatsmacht ein.

15 Ebd., Nr. 26.
 
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