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Kempter, Klaus [Editor]; Boenicke, Rose [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0240
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228 Rose Boenicke

1964 ist auch das Jahr, in dem Marcuses „Der eindimensionale Mensch" erst-
mals erscheint und wo festgestellt wird, dass das erreichte Niveau der Industrie-
gesellschaft in Gestalt von ökonomischem Reichtum und technologischer Ra-
tionalität damit einhergeht, dass „diese Gesellschaft als Ganzes irrational" or-
ganisiert ist.u Die Ressourcen zur Befriedung von Armut, zur Beendigung von
Krieg und ökologischer Zerstörung, so Marcuse, sind das erste Mal tatsächlich
vorhanden, sie werden nur nicht dafür eingesetzt, sondern für die Befestigung
überkommener Machtstrukturen und die Unterstützung eines „eingeschliffe-
ne[n] Universum[s] von Bedürfnissen und Befriedigungen"12, die sich in einer
langen Geschichte von harter Arbeit, Elend und Ungerechtigkeit herausgebil-
det haben und darauf angelegt sind, diese Geschichte zu verewigen, indem
sie zu eingeschliffenen Mustern geworden sind. „Ganz gleich, wie sehr solche
Bedürfnisse zu denen des Individuums selbst geworden sind und durch sei-
ne Existenzbedingungen reproduziert und befestigt werden; ganz gleich, wie
sehr es sich mit ihnen identifiziert und sich in ihrer Befriedigung wiederfindet,
sie bleiben, was sie seit Anbeginn waren - Produkte einer Gesellschaft, deren
herrschendes Interesse Unterdrückung erheischt."13 Die „Unterdrückung der
realen Möglichkeiten"14 einer Befreiung von Krieg und Armut wird dadurch
ermöglicht, dass die Individuen „davon abgehalten werden, autonom zu sein,
solange sie (bis in ihre Triebe hinein) geschult und manipuliert werden"15,
und zwar vor allem durch eine hoch entwickelte Bewusstseinsindustrie. Dies
zu begreifen bedeutet, den Schritt von Gesellschaftskritik zu Gesellschafts-
veränderung zu machen, und zwar in Gestalt von Bewussteinsveränderung als
Alternative zu den blutigen Szenarien revolutionärer Veränderung.

Ähnliche Überlegungen formuliert die „Emanzipationspädagogik". Mol-
lenhauer stellt programmatisch in seiner Einleitung zu „Erziehung und Eman-
zipation" fest, dass die „Mündigkeit des Subjekts" zu erreichen die eigentli-
che Aufgabe aller Pädagogik und konstitutives Postulat der Erziehungswis-
senschaft sei.l6 Dem „korrespondiert, dass das erkenntnisleitende Interesse
der Erziehungswissenschaft das Interesse an Emanzipation ist",17 als „Befrei-
ung der Subjekte [... ] aus Bedingungen, die ihre Rationalität und das mit ihr
verbundene gesellschaftliche Handeln beschränken."l8 Bewusstseinsarbeit in

11 Marcuse 1964,11.

12 Ebd., 26.

13 Ebd., 25.

14 Ebd., 12.

15 Ebd., 26.

16 Stellvertretend für die relativ unübersichtliche Vielfalt an Thematisierungen des Emanzipa-
tionsbegriffs in der pädagogischen Literatur der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts
wird hier in erster Linie auf die Konzeption von Mollenhauer Bezug genommen, da sie im
Nachhinein „als die elaborierteste innerhalb der Ansätze zu einer emanzipatorischen Erzie-
hungswissenschaft" erscheint (Benner 2000,34).

17 Mollenhauer 1968,10.

18 Ebd., 11.
 
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