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Strack, Friedrich [Hrsg.]; Becker-Cantarino, Barbara [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: 200 Jahre Heidelberger Romantik — Berlin, Heidelberg, 51.2007 [erschienen] 2008

DOI Heft:
I: Romantische Erfahrung und poetische Innovation
DOI Artikel:
Petersdorff, Dirk von: Korrektur der Autonomie-Ästhetik, Appell an das 'Leben'
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.11459#0083
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Dirk von Petersdorff

Das Gedicht gehört zur Gattung des Liedes, weist ein einfaches Vokabular und
eine leicht überschaubare Syntax auf. Die Bildlichkeit ist realistisch. Eine Na-
turszenerie, die wiedererkennbar ist, wird entwickelt: Ein spätsommerliches
Feld, das vom Wind leicht bewegt wird; dieser Wind ist in den Wäldern als
Rauschen zu hören, bevor sich der Blick nach oben zum klaren Himmel mit
den Sternen richtet. Anfang und Ende sind mit dem Kuss des Himmels und der
Erde und dem Bild der geflügelten Seele dagegen als allegorisch-konstruktiv zu
bezeichnen. Doch sind diese Allegorien plastisch vorstellbar und werfen keine
Verständnisschwierigkeiten auf, wie die Popularität des Textes gerade in seiner
Vertonung beweist. Die ästhetische Einfachheit ist aber mit einem komplexen
Konzept verbunden. Postuliert wird, dass es für den Menschen ein „Haus"
gibt, auf das er sich hinbewegen kann. Dieser religiöse Kerngedanke wird aber
nicht im Sinn einer bestimmten religiösen Lehre positiviert. Dies verhindern
die Konjunktive am Anfang und Ende ebenso wie der Bewegungscharakter der
Bilder: So wie Ähren und Wälder in Bewegung sind, ist es auch die Seele des
Menschen, die nicht weiß, wie ihr Ziel aussieht, ja nicht einmal weiß, ob es ein
Ziel gibt, denn der Konjunktiv am Schluss - „als flöge sie nach Haus" - ist als
Potentialis oder Irrealis lesbar.

Das Gedicht ist für Christen akzeptabel und kann christlich gefüllt wer-
den. Genauso ist aber auch eine transzendentalphilosophische Lesart möglich:
Danach darf und soll man glauben, dass absolute Gültigkeiten existieren, die
dem Menschen aber nicht im Sinne eines Besitzes zugänglich sind. Er kann
sich ihnen in einem ständigen Progress annähern, jede erreichte Wahrheit
bleibt vorläufig. Plausibel ist weiterhin eine naturphilosophische Lesart, nach
der Analogien zwischen dem menschlichen Bewusstsein und Naturerschei-
nungen existieren, der Mensch sich in der Natur deshalb wiedererkennt, die
Einheit und Totalität sichert. Schließlich kann das Gedicht als unbestimmter
Ausdruck einer Sehnsucht nach ,dem Höheren' in einem säkularisierten Zeit-
alter gelesen werden. Es ist also polyvalent, und es wird, bezieht man es auf
den romantischen Diskurs, den Errungenschaften der frühromantischen Phi-
losophie gerecht. Denn der frühromantische Ansatz, Ideen in temporalisierte
Prozessbegriffe umzuwandeln, die die Möglichkeit einer unendlichen Annähe-
rung der Lebenspraxis an das Sein behaupten, ist hier beibehalten. Was in den
Fichte-Studien des Novalis noch mit abstrakten Begriffen formuliert wurde, ist
nun zu einem Lied geworden.39 Dieses Lied besitzt Referentialität, es besitzt

„Alles Filosofiren muß bey einem absoluten Grunde endigen. Wenn dieser nun nicht gegeben
wäre, so wäre der Trieb zu Filosophiren eine unendliche Thätigkeit - und darum ohne Ende,
weil ein ewiges Bedürfniß nach einem absoluten Grunde vorhanden wäre, das doch nur relativ
gestillt werden könnte - und darum nie aufhören würde. Durch das freywillige Entsagen des
Absoluten entsteht die unendliche freye Thätigkeit in uns - das Einzig mögliche Absolute, was
uns gegeben werden kann. Dies uns gegebne Absolute läßt sich nur negativ erkennen, indem
wir handeln und finden, daß durch kein Handeln das erreicht wird, was wir suchen." Novalis,
HKA II: 269t (Fichte-Studien 566).
 
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