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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 35 - Nr. 43 (1. Mai - 29. Mai)
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Mi/ittwoch, den 22. Mai 1872.

5. Johrg

zeicheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 1 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schuſaaſſe
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Der Tod um einen Fehltritt.
Von C. S.
(Schluß.)

Und er, o, er iſt ein Ungeheuer! er wird ſie mor⸗—
den, mein Freund, aber das iſt noch beſſer, als wenn er
zu ihr ſagte: Sei meine Frau; ſie die Gattin dieſes
Mannes, ſeine beſudelten Lippen auf den ihrigen ...
Mein Gott, ich werde wahnſinnig .... der Elende
ſagte ja dieſen Abend, daß ich es ſchon wäre! .
Unter dieſen leidenſchaftlichen Reden ohne Zuſammen-
hang langten ö
größte Mühe von der Welt, meinen armen Kranken (denn
damals war er es wirklich) dahin zu bringen, daß er ein
wenig der Ruhe genoß, in dem Bette, welches Sie jetzt
einnehmen, mein Herr, und an dem ich ihm zum Anden-
ken nichts geändert habe. ů
Im Laufe diefes Tages fand ich ihn ruhiger, er ſchweifte
auf den Feldern umher und den nächſtfolgenden Tag, als
Herr und Frau v. Adhemar ihn zu beſuchen kamen, war
er ganz ruhig; was die Präſidentin anlangte, ſo ſah ſie

ſich gar nicht mehr ähnlich und man ſah, daß ein gehei-

mer Kummer ihr Leben verzehrte.
Seit einigen Tagen befand ſich der junge Vicomte bei
mir und ich begann wieder Hoffnung zu ſchöpfen, als ich
ihn eines Nachts vorſichtig das Fenſter öffnen zu hören
glaubte; ich dachte, daß er von Schlafloſigkeit erſchöpft
ſich in der friſchen Nachtluft abkühlen wolle; dann will
ich es Ihnen geſtehen, mein Herr, verhinderte mich auch
ein vager Verdacht und die Furcht, ein Geheimniß zu ent-

decken, das ich fürchtete, die Wahrheit zu ergründen und

ich überredete mich, daß ich mich wohl getäuſcht hätte. Ich
werde Zeitlebens dieſe meine Schwäche bereuen! Den fol-

genden Tag ſollte ich mit frühem Morgen einen Kranken

beſuchen, ich ſtand daher noch in der Dämmerung auf,
der Schlaf hatte den Vorfall der Nacht aus meinem Ge-
dächtniſſe verwiſcht und ich ging fort, ohne mich nach dem
Vicomte zu erkundigen. Als ich an dem Schloßgraben
vorbeiging, machte ich die ſehr einfache Bemerkung, daß
die Abzüge aufgezogen und wieder niedergelaſſen worden
waren, das Waſſer hatte ſeinen gewöhnlichen Standpunkt
wieder erreicht; mechaniſch die Augen zu den Fenſtern der
Präſidentin aufſchlagend, ſah ich ein Seil, daß der Wind

hin und her bewegte und deſſen äußerſtes Ende faſt bis

auf die Oberfläche des Waſſers reichte; nun enthüllte ſich
mir die Wahiheit, mein Herr, die ganze entſetzliche Wahr-

wir in meiner Wohnung an; ich hatte die

heit, ein kalter Schweiß erſtarrte meine Glieder. Ich
glaube, Ihnen ſchon geſagt zu haben, daß dieſer Graben
über dreißig Fuß Tiefe hatte und daß man ihn vermit-
telſt des Mechanismus der Abzüge in einer Stunde ab-
laſſen und wieder füllen konnte; der Unglückliche hatte
verſucht, ihn zu durchſchwimmen; aber dieſe Nacht hatte
man ihm obiges Rettungsmittel zurückgezogen und er ſtarb,
um ſie nicht zu entehren. ö —
Während ſich dieſes entſetzliche Drama meinem Geiſte
darſtellte, lüftete eine kleine weiße Hand den Vorhang des

Fenſters und zog das verhängnißvolle Seil zurück. Ich-

floh von dannen, als ob ich von einem Geſpenſt verfolgt
würde. Im Laufe des Tages ließ mir der Präſident ſa
gen, daß eine dringende Angelegenheit ſeinen Neffen zu ei-
ner plötzlichen Reiſe nach Paris genöthigt habe.
Ein halbes Jahr war ſeit dieſer ſchrecklichen Geſchichte
verfloſſen, und während dieſer Zeit war Frau v. Adhemar

nicht aus ihrem. Zimmer gekommen, wo ſie, wie es hieß,

durch eine verzehrende Krankheit, die ihren Geiſt in dem
Grade geſchwächt hätte, daß ſie weiter Niemanden, als ih-

ren Gatten ſehen wollte, zurückgehalten würde, als eines

Abends der Präſident zu mir eintrat; ich hatte ihn lange
nicht geſehen und ſein Geſicht flößte mir Furcht ein, ein
ſo wilder Ausdruck war ihm aufgeprügt. „Nichaud“, re-
dete er mich an, „meine Frau befindet ſich ſehr unwohl,
ſie beſteht zwar darauf, Niemanden ſehen zu wollen, aber
nach Ihnen hat ſie verlangt, und ich komme, Sie zu bit-
ten, Alles aufzubieten, ihr Leben zu verlängern. Nur,“
ſetzte er hinzu und bei dieſen Worten trat er auf mich zu
und faßte mich bei der Hand, die er faſt zerdrückte, „nur
ſchwören Sie erſt bei Allem, was Ihnen heilig iſt, ein
unverbrüchliches Schweigen zu beobachten, welche Bemer-
kungen Sie auch machen mögen; Ihr Leben iſt in Ge-

fahr!“ — Ich ſchwur, was er verlangte; für Frau von

Adhemar hätte ich Alles gewagt, und obgleich mich ſein
Tod ſchon ſeit lange dieſes Eides entbunden hat, ſo iſt
doch dies das erſtemal, daß ich ihn breche.
Ich vermochte mich kaum auf den Füßen zu halten,
als ich zur Frau Präſidentin eintrat; aber wie groß war
meine Verzweiflung, als ich ſie in ihrem Bette liegen ſah,
eher einem Leichname als einem lebenden Weſen ähnlich;
ihre großen Augen lagen hohl und glänzten in fieberiſcher
Gluth, ihre Augäpfel hatten allen flüſſigen Schein verlo-

ren und man ſah, daß ſchon ſeit lange die Thränen in
ihnen verſiegt waren. ö

„Sie bleiben die Nacht hier, nicht wahr Doctor?“ ſagte

der Präſident zu mir. „Sie bedürfen Zeit, um den Zu-

ſtand der Kranken zu erforſchen!“
 
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