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Heidelberger Volksblatt (5) — 1872

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Nr. 35 - Nr. 43 (1. Mai - 29. Mai)
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9 3. *

Ich hatte nicht ſa viel Kraft, ein Wort zu ſprechen,
ein Zeichen mit dem Kopfe war meine ganze Antwort
Herr v. Adhemar umarmte ſeine Gattin und ging hinaus.
Ich näherte mich ihr; ſie war unter der Berührung ihres
Henkers in Ohnmacht gefallen.
Als ſie wieder zur Beſinnung kam, reichte ſie mir ihre
arme abgezehrte Hand, auf der man alle Muskeln hätte
zählen können, und fand Kraft genug, die meinige zu
drücken; ich küßte, ſie mit Thränen benetzend, dieſe Hand,
welche ſo viel Unglück gelindert hatte.
„Nicht über mich dürfen Sie weinen, mein Freund,“
ſprach ſie mit kaum vernehmbarer Stimme, „ſondern über
ihn, deſſen Seele, trotz aller meiner Gebete, noch keine
Ruhe hat finden können; das iſt meine größte Marter und
ich ſterbe mehr aus Urſache ſeiner ewigen Qualen, als der
Leiden, welche ich auf dieſer Erde erdulde.“
Madame, entgegnete ich, die Barmherzigkeit Gottes
iſt groß.
„An ihm hat ſie ſich noch nicht erwieſen, denn Sie
wiſſen nicht, daß er mir jede Nacht erſcheint und die Worte
wiederholt, welche uns Beide getödtet haben, dieſe Gott
mißfälligen Worte!“
Ich glaubte, daß Fieberwahnſinn dieſen armen Kopf
verwirre und ich ſuchte ſie zu beruhigen, als auf einmal
die Worte deutlich in mein Ohr drangen und mich durch
und durch erſchütterten: „Alice, mein Engel, ſchwöre, mir
allein anzugehören!“ Die Unglückliche richtete ſich auf ih-⸗
rem Bette in die Höhe, wie ein Geſpenſt, und verfiel in
ſchreckliche Zuckungen. Sechsmal in der Nacht wiederholte
ſich dieſelbe Scene, von denſelben Reſultaten begleitet.
„Sie ſehen wohl, daß er der ewigen Verdammniß an-
heimgefallen,“ fuhr Frau v. Adhemar fort; „ſeit einem
halben Jahr bringe ich alle meine Nächte auf dieſe Weiſe
zu, ich habe keine Kraft mehr, zu beten und ich fühle, daß
ich ſterben werde, bevor meine Körperleiden unſer Verbre-
chen geſühnt haben.“

Nun durchſchaute ich Alles klar, ich durchſchaute die x
wilde Rache des Präſidenten, welcher die Charakterſchwäche

ſeiner Gattin und ihren religiöſen Aberglauben, eine Folge
ihrer Erziehung, benutzte, um ſie mit ausgeſuchter Mar-
ter, welche der barbariſchſten Zeiten würdig iſt, zu morden.
Ich konnte nichts ſagen; überdieß hätte ich mir ſelbſt
mein Verderben zugezogen, ohne die Präſidentin retten zu
können, die ihrer Auflöſung nahe war. Zwei Tage da-
rauf verſchied ſie in der That in meinen Armen, ohne daß
ihr ihr Gatte die Tröſtungen der Religion und den Bei-
ſtand eines Prieſters gewährt hätte; in dem Augenblicke,
wo ſie den letzten Seufzer aushauchte, neigte ich mich über
ſie und ſagte ihr die Wahrheit; ihr Blick ſagte, daß ſie
mich verſtanden hatte q... Sie ſtarb getröſtet.“
Herr Nichaud ſchwieg; die Rührung hatte ihn über-
mannt und ich betrachtete mit Ehrfurcht dieſen Mann,
deſſen gutes und gefühlvolles Herz noch nach Verlauf von
vierzig Jahren über Ereigniſſe, die ſeinem Leben eigentlich
bfand waren, einen ſo lebhaften und tiefen Kummer em-
pfand. ͤ ö
Den folgenden Abend waren die Siegel abgenommen
worden und ich durcheilte das Schloß; nicht ohne Rüh-
rung ſah-ich in der dicken Mauer, welche ſich zu Häupten

des Bettes, welches die Präſidentin eingenommen, hinzog,
eine kleine, in der Art angebrachte Niſche, daß ſie einen
Menſchen faſſen konnte; es war die Stelle, von wo aus
Herr v. Adhemar ſein Opfer gemordet hatte.
Ich habe wohl nicht erſt nöthig, den Leſer zu verſichern,
daß die Erben des Johann Moulinet nie Ane ähnliche.
Luſt anwandeln wird, obgleich ſie eben ſo viel, wie der
edle Präſident, auf die Ehre ihrer Frauen halten, aber
wie ein ſehr geiſtreicher Mann geſagt hat; „Man zeige
ſich gegen die Frauen als der Liebenswürdigſte von Allen
ſen man wird ſelbſt der beſte Bürge für ihre Tugend
ein.“

Die ſteigende Wohnungsnoth
und die enormen Wohnungsmiethen in ihren Folgen.

Die erſtaunlich raſche Entwickelung unſerer Induſtrie
und unſeres Handels veranlaßt eine wahre Völkerwande-
rung nach den Centren dieſer modernen Erwerbsthätigkei-
ten und die Städte nehmen an Zahl ihrer Bewohner in
einem Grade zu, der zur allgemeinen Bevölkerungszunahme
weder in einem richtigen, noch in mancher Beziehung ſon-
derlich günſtigen Verhältniſſe ſteht. In Folge deſſen macht
ſich an ſolchen Plätzen eine drückende Wohnungsnoth gel-
tend, die noch, anſtatt durch rationelle Bauthätigkeit ge-
mildert zu werden, durch das Zurückhalten von Bauplätzen
vom öffentlichen Markt, bezw. enorme Preisforderungen,
künſtlich vermehrt wird und die Miethpreiſe in ungerecht-
fertigter, ſchreckenerregender Weiſe in die Höhe treibt,
damit aber immer höheren Forderungen Vorſchub leiſtet.
Nimmt wie jetzt in allen größeren und — exempla sunt
odiosa — auch kleineren Städten die Wohnungsvertheue-
rung in gleichem Maße wie bisher zu — und die anhal-
tende Hetzjagd im Hinaufſchrauben der Häuſer- und Bau-
platzpreiſe läßt dies erwarten — ſo werden die mit einem
mittleren oder gar nur geringen Einkommen ausgeſtatte-
ten Familien, die jetzt ſchon durchſchnittlich ein Viertel
deſſelben allein für die Wohnung verausgaben müſſen,
fernerhin nicht mehr in der Lage ſein, ſich eine den Be-
dürfniſſen ihres Standes und ihrer Mitgliederzahl auch
nur einigermaßen angemeſſene anſtändige Wohnung zu
gönnen, es werden noch engere, mit Luft und Licht nur
ſpärlich verſehenen Räumlichkeiten ſolchen Familien zur
Aufnahme dienen müſſen, die Geſundheit derſelben aber be-
ſonders bei den caſernenartigen Bauten, die oft fünfzig,
ſechzig und mehr Menſchen beherbergen, in bedenklicher

Weiſe alterirt werden und die Sterblichkeit wird in raſch

ſteigender Proportion zunehmen. In welch' ausgedehntem
Maße die Wohnung, je nachdem Luft und Licht ſte als
gut oder ſchlecht qualificiren, auf den menſchlichen Orga-
nismus einwirkt, und, je nachdem ſie Vielen oder Weni-
gen zum Aufenthalte dient, das ſittliche Verhalten beein-
flußt, erhellt aus den ſtatiſtiſchen Erhebungen über Woh-
nungs⸗, Sterblichkeits⸗ und Sittlichkeits⸗Verhältniſſe in
verſchiedenen größeren Städten. Dabei treten uns z. B.
die Zuſtände in Berlin und Wien gegenüber dem weit
größeren London in nichts weniger als erbaulicher Weiſe
vor Augen, da ſowohl die Sterblichkeit, als auch die un-
 
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