bei der unſtäten Lebensart, die er führte, ohne eine Frau,
die ſeinem Haushalt vorſtand. Als er ſich dann ſpäter
wieder vermählte, meinte er, das Mädchen habe ſich bei
uns eingewöhnt, werde überdies gehalten wie ein eigenes
Kind; ſo wollte er es nicht losreißen von der Stätte,
die ihm zur Heimath geworden. Noch ſpäter — ich
kenne ſeinen zweiten Eheſchatz ja nicht. — Aber ſicher
iſt, daß Brechta bei demſelben neben den eigenen kleinen
Kindern nicht ſo gehalten wäre, als bei uns, wo Alles
ſie auf den Händen trug. Ich fürchte nur, daß es zu
ſehr geſchah, daß ihr die wahrſcheinlich ſtrenge Zucht der
Stiefmutter beſſer gethan hätte, als unſere allzu große
Liebe und Nachſicht. Wenigſtens habt Ihr Männer, vor-
nehmlich Dein Großvater und Du, das ohnehin nur all-
zu lebhafte und eigenſinnige Kind verzogen.“
Sigismund konnte den Vorwurf nicht zurückweiſen,
mochte ihn ſich ſelber in der letzten Zeit ſchon gemacht
haben. „Wir hatten ja kein Schweſterchen, überhaupt
kein kleines Mädchen im Hauſe“, entſchuldigte er. „Und
daß ſie ſo früh die Mutter verloren, daß ſie nicht unter
den Augen des Vaters heranwuchs, mußte uns um ſo
liebevoller und nachſichtiger gegen ſie ſtimmen. Wie
konnte man an ihr tadeln, was vielleicht — nicht lobens-
würdig, ja tadelnswerth war — ſie gar beſtrafen? Sie
hätte dann empfunden, daß ſie hier nicht zu Hauſe und
gleichſam heimathlos ſei, hätte ſich um die todte Mutter,
den fernen Vater gehärmt, ſich nach ihnen geſehnt. Unſer
eifrigſtes Beſtreben war, ſie ihren Verluſt nie empfinden
zu laſſen.“
„Und nun ſehnt fie ſich doch hinaus, fort aus dem
Neſtchen, daß ihr, weiß Gett, Jeder nach Kräften trau-
lich und heimiſch zu machen ſuchte — mit Hintanſetzung
all der Strenge, die einem Gemüth, wie das ihre ein-
mal iſt, nothgethan hätte.“
Der junge Mann wandte ſich ab. „Es liegt in der
Natur. Hat das junge Vögelein erſt Schwingen, ſo
ſehnt es ſich, davon zu fliegen — fliegt davon.“
Die Großmutter nickte zuſtimmend. „Und daß ſie
bei ihrem Vater ſein möchte, iſt ihr freilich auch nicht
zu verdenken.“
Ein Schatten flog über des Magiſters Stirn, ein
trübes Lächeln umſpielte den feinen Mund. „Die gute
alte Frau! Wenn Engelbrechta ſich nach dem Vater-
hauſe ſehnte, ſo hatte ſie dabei wohl vornehmlich die
glänzenden Luſtbarkeiten im Sinn, die ſich dort am Hofe
bieten mußten. Und auch das war ihr im Grunde nicht
zu verargen. War ſie doch jung, hübſch, lebensluſtig!
Zudem hatte man es aus übergroßer Liebe leider ver-
ſäumt, die Eitelkeit und Weltluſt, welche hervorragende
Züge ihres Charaktrs bildeten, auszurotten oder wenig-
ſtens zu unterdrücken, zu dämpfen, als es noch Zeit
war dazu.“ ö
„„Doch was unverantwortlich und unverzeihlich, das
äſt ihre Undankbarkeit gegen die Kerbelin, ihr herzloſes
Benehmen gegen Mutter und Tochter“, ſprach die Greiſin.
(Fortſetzung folgt.)
27
Vermiſchtes.
(Die Titelſuch) iſt eine ſehr gewöhnliche Krank-
heit unter allen Völkern, ſo bald ſie ſich aus ihren pri-
mitiven Zuſtänden heraus gehoben und die Kultur an-
gefangen hat, ſie zu belecken. Sie iſt eine merkwürdige,
aller geſellſchaftlichen Stände ſich bemächtigende Epidemie,
eigentlich mehr lächerlicher, als gefährlicher Natur, ſchwer
und faſt unmöglich ganz auszurotten, bei den einzelnen
Leidenden aber zu heilen durch Diplome, Patente u. dgl.
Die Satyre hat ſich bis jetzt noch nicht als gründliches
Mittel gegen ſie bewieſen. Vergeblich lacht man über:
„Vertheidiger des Glaubens“, „Allerdurchlauchtigſter“,
„Unüberwindlichſter“, „Mehrer de Rriches“; man macht
ſich luftig über „König von Jeruſalem“ (ohne den Be-
ſitz eines Hauſes darin), wenn der Kanzler von Frank-
reich und der Bürgermeiſter von Bopfingen „Magnifi-
zenz“ hießen. Nennt doch Shackeſpeare, der den Hof
der Königin Eliſabeth nicht außer Acht ließ, den Cäſar
einigemal Mylord. Vollends aber ergötzlich iſt es, wenn
man von den beſonders im lieben Deutſchland viel ver-
breiteten Rathstiteln ein alphabetiſches Verzeichniß auf-
ſtellt. In dem dieſer Branche eigends gewidmeten Buche
des Oberamtmanns J. F. von Beuſt in Ohrdruf vom
Jahre 1743 behandelt ein ſpezielles Kapitel auf 32
Quartſeiten die unterſchiedlichen Arten der Räthe. Der
Hofrath von Hellbach in Arnſtadt, der ein Handbuch des
Rangrechts herausgab, zählt die Räthe verſchiedenen Na-
mens bis auf einhundertundvierzehn, die ſich bis jetzt wohl
bedeutend vermehrt haben werden. Einen Thierarzt er-
nannte Friedrich der Große zum „Viel rath“, der aber
keinen Nachfolger gefunden zu haben ſcheint. Unter den
Buchſtaben N, X und Y haben wir noch keinen Rath
angetroffen.
(Der deutſche Teufel.) Dr. Martin Luther
ſagt in ſeiner Auslegung des 101. Pfalms: „Ich habe
oft meinen Jammer geſehen, welche gar feine wohlge-
ſchaffene an Leib und Seelen unter dem jungen Adel ſind,
wie die ſchönen jungen Bäumlein, und weil kein Gärtner
da war, der ſie zog und verwahret, ſind ſie von Säuen
zerwühlet und in ihrem Saft verdorret. Es muß aber
ein jedes Land ſeinen eigenen Teufel haben. Unſer
deutſcher Teufel wird ein guter Wein-
ſchlauch ſein und muß Sauf heißen, und
habe ich Sorge, daß ſolch ewiger Durſt Deutſchlands
Plage ſein wird bis am jüngften Tage.“
Zur gef. Beachtung.
Für das mit dem 1. Januar l. J. begonnene neue
Quartal des „Heidelberger Volksblatt“ können neu
eintretenden Abonnenten die bis heute erſchienenen
Nummern noch nachgeliefert werden. Monatspreis 36
Pfennige. ö ö —
Abonnenten dieſes Blattes erhalten den töglich er-
ſcheinenden „Neuen Heidelberger Anzeiger gratis zuge-
ſtellt. Die Expedition.
die ſeinem Haushalt vorſtand. Als er ſich dann ſpäter
wieder vermählte, meinte er, das Mädchen habe ſich bei
uns eingewöhnt, werde überdies gehalten wie ein eigenes
Kind; ſo wollte er es nicht losreißen von der Stätte,
die ihm zur Heimath geworden. Noch ſpäter — ich
kenne ſeinen zweiten Eheſchatz ja nicht. — Aber ſicher
iſt, daß Brechta bei demſelben neben den eigenen kleinen
Kindern nicht ſo gehalten wäre, als bei uns, wo Alles
ſie auf den Händen trug. Ich fürchte nur, daß es zu
ſehr geſchah, daß ihr die wahrſcheinlich ſtrenge Zucht der
Stiefmutter beſſer gethan hätte, als unſere allzu große
Liebe und Nachſicht. Wenigſtens habt Ihr Männer, vor-
nehmlich Dein Großvater und Du, das ohnehin nur all-
zu lebhafte und eigenſinnige Kind verzogen.“
Sigismund konnte den Vorwurf nicht zurückweiſen,
mochte ihn ſich ſelber in der letzten Zeit ſchon gemacht
haben. „Wir hatten ja kein Schweſterchen, überhaupt
kein kleines Mädchen im Hauſe“, entſchuldigte er. „Und
daß ſie ſo früh die Mutter verloren, daß ſie nicht unter
den Augen des Vaters heranwuchs, mußte uns um ſo
liebevoller und nachſichtiger gegen ſie ſtimmen. Wie
konnte man an ihr tadeln, was vielleicht — nicht lobens-
würdig, ja tadelnswerth war — ſie gar beſtrafen? Sie
hätte dann empfunden, daß ſie hier nicht zu Hauſe und
gleichſam heimathlos ſei, hätte ſich um die todte Mutter,
den fernen Vater gehärmt, ſich nach ihnen geſehnt. Unſer
eifrigſtes Beſtreben war, ſie ihren Verluſt nie empfinden
zu laſſen.“
„Und nun ſehnt fie ſich doch hinaus, fort aus dem
Neſtchen, daß ihr, weiß Gett, Jeder nach Kräften trau-
lich und heimiſch zu machen ſuchte — mit Hintanſetzung
all der Strenge, die einem Gemüth, wie das ihre ein-
mal iſt, nothgethan hätte.“
Der junge Mann wandte ſich ab. „Es liegt in der
Natur. Hat das junge Vögelein erſt Schwingen, ſo
ſehnt es ſich, davon zu fliegen — fliegt davon.“
Die Großmutter nickte zuſtimmend. „Und daß ſie
bei ihrem Vater ſein möchte, iſt ihr freilich auch nicht
zu verdenken.“
Ein Schatten flog über des Magiſters Stirn, ein
trübes Lächeln umſpielte den feinen Mund. „Die gute
alte Frau! Wenn Engelbrechta ſich nach dem Vater-
hauſe ſehnte, ſo hatte ſie dabei wohl vornehmlich die
glänzenden Luſtbarkeiten im Sinn, die ſich dort am Hofe
bieten mußten. Und auch das war ihr im Grunde nicht
zu verargen. War ſie doch jung, hübſch, lebensluſtig!
Zudem hatte man es aus übergroßer Liebe leider ver-
ſäumt, die Eitelkeit und Weltluſt, welche hervorragende
Züge ihres Charaktrs bildeten, auszurotten oder wenig-
ſtens zu unterdrücken, zu dämpfen, als es noch Zeit
war dazu.“ ö
„„Doch was unverantwortlich und unverzeihlich, das
äſt ihre Undankbarkeit gegen die Kerbelin, ihr herzloſes
Benehmen gegen Mutter und Tochter“, ſprach die Greiſin.
(Fortſetzung folgt.)
27
Vermiſchtes.
(Die Titelſuch) iſt eine ſehr gewöhnliche Krank-
heit unter allen Völkern, ſo bald ſie ſich aus ihren pri-
mitiven Zuſtänden heraus gehoben und die Kultur an-
gefangen hat, ſie zu belecken. Sie iſt eine merkwürdige,
aller geſellſchaftlichen Stände ſich bemächtigende Epidemie,
eigentlich mehr lächerlicher, als gefährlicher Natur, ſchwer
und faſt unmöglich ganz auszurotten, bei den einzelnen
Leidenden aber zu heilen durch Diplome, Patente u. dgl.
Die Satyre hat ſich bis jetzt noch nicht als gründliches
Mittel gegen ſie bewieſen. Vergeblich lacht man über:
„Vertheidiger des Glaubens“, „Allerdurchlauchtigſter“,
„Unüberwindlichſter“, „Mehrer de Rriches“; man macht
ſich luftig über „König von Jeruſalem“ (ohne den Be-
ſitz eines Hauſes darin), wenn der Kanzler von Frank-
reich und der Bürgermeiſter von Bopfingen „Magnifi-
zenz“ hießen. Nennt doch Shackeſpeare, der den Hof
der Königin Eliſabeth nicht außer Acht ließ, den Cäſar
einigemal Mylord. Vollends aber ergötzlich iſt es, wenn
man von den beſonders im lieben Deutſchland viel ver-
breiteten Rathstiteln ein alphabetiſches Verzeichniß auf-
ſtellt. In dem dieſer Branche eigends gewidmeten Buche
des Oberamtmanns J. F. von Beuſt in Ohrdruf vom
Jahre 1743 behandelt ein ſpezielles Kapitel auf 32
Quartſeiten die unterſchiedlichen Arten der Räthe. Der
Hofrath von Hellbach in Arnſtadt, der ein Handbuch des
Rangrechts herausgab, zählt die Räthe verſchiedenen Na-
mens bis auf einhundertundvierzehn, die ſich bis jetzt wohl
bedeutend vermehrt haben werden. Einen Thierarzt er-
nannte Friedrich der Große zum „Viel rath“, der aber
keinen Nachfolger gefunden zu haben ſcheint. Unter den
Buchſtaben N, X und Y haben wir noch keinen Rath
angetroffen.
(Der deutſche Teufel.) Dr. Martin Luther
ſagt in ſeiner Auslegung des 101. Pfalms: „Ich habe
oft meinen Jammer geſehen, welche gar feine wohlge-
ſchaffene an Leib und Seelen unter dem jungen Adel ſind,
wie die ſchönen jungen Bäumlein, und weil kein Gärtner
da war, der ſie zog und verwahret, ſind ſie von Säuen
zerwühlet und in ihrem Saft verdorret. Es muß aber
ein jedes Land ſeinen eigenen Teufel haben. Unſer
deutſcher Teufel wird ein guter Wein-
ſchlauch ſein und muß Sauf heißen, und
habe ich Sorge, daß ſolch ewiger Durſt Deutſchlands
Plage ſein wird bis am jüngften Tage.“
Zur gef. Beachtung.
Für das mit dem 1. Januar l. J. begonnene neue
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