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5.
Wir müſſen das, was einige Zeit vorher in einem
der obern Zimmer geſchah, nachholen.
In ihrem gepolſterten Lehnſtuhl ſaß die greiſe Aelter-
mutter des Engernſtein'ſchen Hauſes und las in der
rieſigen Bibel, die auf einem Tiſche ror ihr lag. Die
Augen der faſt Nenn zidjährigen waren noch ſcharf ge-
nug, um die gewalttgen Lettern zu entziffern, — brauch-
ten dabei nicht eirmal beſonders angeſtrengt zu werden;
die Bürgerm iſterwittwe kannte die heilige Schrift zum
großen Theile arswendig und ihr Gedächtniß war nech
ſo treu, daß ſie nur einige Worte leſen durfte, um dann
mehrere Verſe auswendig herſagen zu können Allein ſo
friſch der Geiſt roch war, und obgleich ſelbſt ſeine Die-
ner, die Sinne, verhältnißmäßig ſcharf geblieben — ſeine
Hülle, der Körper, hatte trotz aller urſprünglichen Kraft
und Ausdauer der Laſt der Jahre voch ſich beugen
müſſen; die Füße wollten ſie nicht mehr tragen und
der Rücken bedurfte ſtets der unterſützenden Kiſſen.
„Schon!“ ſagte ſie freundlich, als nach dem Kirch-
gange der jüngſte Enkel und die älteſte Urenkelin bei
ihr eintraten. „Weißt Du, Engelbrechta, was ich vor-
hin dachte? Du könnteſt ſelbſt mitgehen, wenn wir der
Kerbelin etwas vom Hochzeitsſchmauſe ſchicken. Es würde
ſie freuen.“ ö
Das junge Mädchen zuckte unmuthig die Achſelu;
die fin ſtere Miene verrieth wenig Gencigtheit zur Aus-
führung des Anftrages. ö
„Wenzels Hochzeit hat mich recht lebhaft in die Ver-
gangenheit zurückverſetzt“, fuhr die Matrone fort. „Im-
mer wieder muß ich der Hochzeit Deiner Eltern denken,
Brechta. Es war damals anders — ich noch nicht an
den Stuhl gefeſſelt von Alterſchwäche, der Sigismund
ein kleiner Bube und ſeine Mutter, die nun auch bei
Gott iſt, eine noch jugendlich blühende Frau. Und Deine
Mutter, Kind! Welch ſüßes, herziges und beſcheidenes
Geſchöpf! Du haſt nichts von ihr, magſt wohl mehr
Deinem Vater nacharten.“ Erſt nachträglich kam es ihr
zum Bewußtſein, daß ſie da der Urenkelin nicht etwas
Angenehmes ſage. Raſch fügte ſie hinzu: „daß ſie ſo
weit fortzog, ſchmerzte uns freilich Alle tief. Aber das
Weib ſoll eir mal Vater und Mutter, Elternhaus und
Heimat verlaſſen, um dem Manne zu folgen. Auch ahn-
ten wir ja nicht, wie bald die lit bliche junge Braut ein
Raub des Todes ſein wür de. Es war uns und auch ihr
ein Troſt, daß Elſabe, ein Nachbarskind von Sigismunds
Mutter und ein keckes friſches Weſen, auch mit ihrem
Mann nach Franken zog, weil Handel und War del da-
mals hier darnieder lag und der geſchickte junge Hand-
werker dort mehr Geld und Gut zu gewinnen dachte, als
hier möglich — ſelbſt beim größeſten Fleiß. Und nach
Geld und Gut ſtand Elſabes Sinn vielleicht mehr, als
recht iſt. Doch wozu davon reden? Es iſt lange und
ſchwer gebüßt, wenn es unrecht war und ziemt uns nicht,
daran zu rühren noch darüber zu richten, daß ſie ſich dem
Willen Gottes nicht ganz ſo ergeben zu fügen vermochte,
wie der Chriſt es allezeit ſoll. Wohl aber ziemt es uns,
der Armen die zärtliche Fürſorge zu vergelten, mit der
ſie, ſelbſt ſo ſchwer niedergebeugt, ſich der mutterloſen
Waiſe ihrer Landsmännin annahm.“ ö
Nach Art alter Leute redete die Greiſin gern von
der Vergangenheit und wiederholte oft, was Jedermann
wußte. Der Enkel hörte ſie, wie immer, aufmerkſam
an, Engelbrechta verſetzte kurz: ö
„Der Großvater wollte ſie ja gebührend belohnen;
aber ſie wies es ſchreff zurück, wie auch die Geldſumme,
welche mein Vater für ſie ſandte.“
Die Matrone neigte das Haupt. Elſabe Kerbelin
hatte ſich da allerdings wunderlich benommen. Aber ſie
fand eine Entſchuldigung dafür. „Geld, mein Kind,
vermag nimmer die Mühe und Selbſtverleugnung zu
lohnen, die ein Säugling heiſcht. Dafür entſchädigt nur
jene wunderbare Regung, die Gott der Creatur ein-
pflanzte: das Muttergefühl. Männer und Jungfrauen
verſtehen das nicht. Kein König iſt reich genug, eine
Frau zu bezahlen, welche die Liebe und Pflege, die dem
eigenen Kinde gebührt und freudig gewidmet wird, einem
Fremden angedeihen läßt. Für ſie gibt es nur einen
würdigen Lohn, den: ihr Kind zu lieben, als ſei es
auch kein fremdes, ſondern eigenes Fleiſch und Blut.“
Sie ſtreckte dem Enkel die zitternde Hand hin. Er hatte,
wie ſie ſelber, dieſem Grundſatz nachgelebt — Benigna
verwandſchaftlich geliebt.
Die Augen Engelbrechta's funkelten vor Ungeduld
und Zorn, ſie mußte ſich indeß beherrſchen. Obwohl
verwöhnt und verhätſchelt vom ganzen Hauſe, durfte ſie
nicht wagen, der alten Frau offen zu widerſprechen. Sie
ſprang alſo zu einem andern Thema über „Mein Vater
ſcheint eben keine große Sehnſucht nach meinem Anblick
zu empfinden. Wenn es ihm ſo unmaͤglich iſt, ſich los-
zureißen von ſeinen Geſchäften, hätte er mich ja längſt
zu ſich entbieten können.“ ö
„Willſt Du noch ausgehen?“ fragte der Magiſter,
da ſie in der Umhüllung geblieben war.
Kurz bejahte ſie und gab an, eine Freundin zu be-
ſuchen und ging. Vorerſt jedoch nur auf den Altan. Daß
Sigismund ihr nicht folgen würde, wußte ſie. Er theilte
der Großmutter nach der Predigt ſtets den Inhalt der-
ſelben mit, war alſo an deren Lehnſtuhl gebannt.
Heute kam man jedoch nicht ſogleich auf die Predigt.
Seufzend und kopfſchüttelnd blickte die Matrone der Ur-
enkelin nach. ö
Der Oheim vertheidigte die Nichte. „Es muß aller-
dings ihr töchterliches Gefühl kränken, daß der Vater
in ſiebzehn Jahren nicht einmal Zeit fand zu
einem Beſuch bei uns, i0e daß er nie den Wunſch aus-
ſprach, ſie um ſich zu haben.“ ö
102 iſt vah⸗ — dennoch, Du weißt ja ſelber, wie
das kam. Den Kummer um den Verluſt ihrer Mutter
wollte er zuerſt nicht unnütz wieder auffriſchen durch den
Anblick des verwaiſten Tüöchterchens; konnte dieſes, das
ſorgſamer Pflege bedurfte, doch auch nicht um ſich haben
5.
Wir müſſen das, was einige Zeit vorher in einem
der obern Zimmer geſchah, nachholen.
In ihrem gepolſterten Lehnſtuhl ſaß die greiſe Aelter-
mutter des Engernſtein'ſchen Hauſes und las in der
rieſigen Bibel, die auf einem Tiſche ror ihr lag. Die
Augen der faſt Nenn zidjährigen waren noch ſcharf ge-
nug, um die gewalttgen Lettern zu entziffern, — brauch-
ten dabei nicht eirmal beſonders angeſtrengt zu werden;
die Bürgerm iſterwittwe kannte die heilige Schrift zum
großen Theile arswendig und ihr Gedächtniß war nech
ſo treu, daß ſie nur einige Worte leſen durfte, um dann
mehrere Verſe auswendig herſagen zu können Allein ſo
friſch der Geiſt roch war, und obgleich ſelbſt ſeine Die-
ner, die Sinne, verhältnißmäßig ſcharf geblieben — ſeine
Hülle, der Körper, hatte trotz aller urſprünglichen Kraft
und Ausdauer der Laſt der Jahre voch ſich beugen
müſſen; die Füße wollten ſie nicht mehr tragen und
der Rücken bedurfte ſtets der unterſützenden Kiſſen.
„Schon!“ ſagte ſie freundlich, als nach dem Kirch-
gange der jüngſte Enkel und die älteſte Urenkelin bei
ihr eintraten. „Weißt Du, Engelbrechta, was ich vor-
hin dachte? Du könnteſt ſelbſt mitgehen, wenn wir der
Kerbelin etwas vom Hochzeitsſchmauſe ſchicken. Es würde
ſie freuen.“ ö
Das junge Mädchen zuckte unmuthig die Achſelu;
die fin ſtere Miene verrieth wenig Gencigtheit zur Aus-
führung des Anftrages. ö
„Wenzels Hochzeit hat mich recht lebhaft in die Ver-
gangenheit zurückverſetzt“, fuhr die Matrone fort. „Im-
mer wieder muß ich der Hochzeit Deiner Eltern denken,
Brechta. Es war damals anders — ich noch nicht an
den Stuhl gefeſſelt von Alterſchwäche, der Sigismund
ein kleiner Bube und ſeine Mutter, die nun auch bei
Gott iſt, eine noch jugendlich blühende Frau. Und Deine
Mutter, Kind! Welch ſüßes, herziges und beſcheidenes
Geſchöpf! Du haſt nichts von ihr, magſt wohl mehr
Deinem Vater nacharten.“ Erſt nachträglich kam es ihr
zum Bewußtſein, daß ſie da der Urenkelin nicht etwas
Angenehmes ſage. Raſch fügte ſie hinzu: „daß ſie ſo
weit fortzog, ſchmerzte uns freilich Alle tief. Aber das
Weib ſoll eir mal Vater und Mutter, Elternhaus und
Heimat verlaſſen, um dem Manne zu folgen. Auch ahn-
ten wir ja nicht, wie bald die lit bliche junge Braut ein
Raub des Todes ſein wür de. Es war uns und auch ihr
ein Troſt, daß Elſabe, ein Nachbarskind von Sigismunds
Mutter und ein keckes friſches Weſen, auch mit ihrem
Mann nach Franken zog, weil Handel und War del da-
mals hier darnieder lag und der geſchickte junge Hand-
werker dort mehr Geld und Gut zu gewinnen dachte, als
hier möglich — ſelbſt beim größeſten Fleiß. Und nach
Geld und Gut ſtand Elſabes Sinn vielleicht mehr, als
recht iſt. Doch wozu davon reden? Es iſt lange und
ſchwer gebüßt, wenn es unrecht war und ziemt uns nicht,
daran zu rühren noch darüber zu richten, daß ſie ſich dem
Willen Gottes nicht ganz ſo ergeben zu fügen vermochte,
wie der Chriſt es allezeit ſoll. Wohl aber ziemt es uns,
der Armen die zärtliche Fürſorge zu vergelten, mit der
ſie, ſelbſt ſo ſchwer niedergebeugt, ſich der mutterloſen
Waiſe ihrer Landsmännin annahm.“ ö
Nach Art alter Leute redete die Greiſin gern von
der Vergangenheit und wiederholte oft, was Jedermann
wußte. Der Enkel hörte ſie, wie immer, aufmerkſam
an, Engelbrechta verſetzte kurz: ö
„Der Großvater wollte ſie ja gebührend belohnen;
aber ſie wies es ſchreff zurück, wie auch die Geldſumme,
welche mein Vater für ſie ſandte.“
Die Matrone neigte das Haupt. Elſabe Kerbelin
hatte ſich da allerdings wunderlich benommen. Aber ſie
fand eine Entſchuldigung dafür. „Geld, mein Kind,
vermag nimmer die Mühe und Selbſtverleugnung zu
lohnen, die ein Säugling heiſcht. Dafür entſchädigt nur
jene wunderbare Regung, die Gott der Creatur ein-
pflanzte: das Muttergefühl. Männer und Jungfrauen
verſtehen das nicht. Kein König iſt reich genug, eine
Frau zu bezahlen, welche die Liebe und Pflege, die dem
eigenen Kinde gebührt und freudig gewidmet wird, einem
Fremden angedeihen läßt. Für ſie gibt es nur einen
würdigen Lohn, den: ihr Kind zu lieben, als ſei es
auch kein fremdes, ſondern eigenes Fleiſch und Blut.“
Sie ſtreckte dem Enkel die zitternde Hand hin. Er hatte,
wie ſie ſelber, dieſem Grundſatz nachgelebt — Benigna
verwandſchaftlich geliebt.
Die Augen Engelbrechta's funkelten vor Ungeduld
und Zorn, ſie mußte ſich indeß beherrſchen. Obwohl
verwöhnt und verhätſchelt vom ganzen Hauſe, durfte ſie
nicht wagen, der alten Frau offen zu widerſprechen. Sie
ſprang alſo zu einem andern Thema über „Mein Vater
ſcheint eben keine große Sehnſucht nach meinem Anblick
zu empfinden. Wenn es ihm ſo unmaͤglich iſt, ſich los-
zureißen von ſeinen Geſchäften, hätte er mich ja längſt
zu ſich entbieten können.“ ö
„Willſt Du noch ausgehen?“ fragte der Magiſter,
da ſie in der Umhüllung geblieben war.
Kurz bejahte ſie und gab an, eine Freundin zu be-
ſuchen und ging. Vorerſt jedoch nur auf den Altan. Daß
Sigismund ihr nicht folgen würde, wußte ſie. Er theilte
der Großmutter nach der Predigt ſtets den Inhalt der-
ſelben mit, war alſo an deren Lehnſtuhl gebannt.
Heute kam man jedoch nicht ſogleich auf die Predigt.
Seufzend und kopfſchüttelnd blickte die Matrone der Ur-
enkelin nach. ö
Der Oheim vertheidigte die Nichte. „Es muß aller-
dings ihr töchterliches Gefühl kränken, daß der Vater
in ſiebzehn Jahren nicht einmal Zeit fand zu
einem Beſuch bei uns, i0e daß er nie den Wunſch aus-
ſprach, ſie um ſich zu haben.“ ö
102 iſt vah⸗ — dennoch, Du weißt ja ſelber, wie
das kam. Den Kummer um den Verluſt ihrer Mutter
wollte er zuerſt nicht unnütz wieder auffriſchen durch den
Anblick des verwaiſten Tüöchterchens; konnte dieſes, das
ſorgſamer Pflege bedurfte, doch auch nicht um ſich haben