er Volksblatt.
Mittwoch, den 4. Oetober 1876.
9. Jahrg.
Nr. 76.
Erſcheint Mitiwoch und Sanſtag. Preis manailich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
ö und bei ben Trägern. Auswärts bei ven Landboten und Poſtanſtalten.
Eiu Naubauſall und feiue Folgen.
„So glaubſt Du alſo nicht, Ookel, daß man mich
nn meiner ſelbſt willen lieben könne?“
„Doch, mein armes liebes Kind, aber
„Aber ich bin ſchlecht gewachſ u, mein Geſicht ik durch
Pock⸗nnarben entſtellt, ich bin käßlich mit einem Wort!“
„Du haſt eine ſchöne Seele, Paule, Du biſt ſchön
füe einen Mann von Herz und Gemütb. ö
„So! tei Dian Fedor zweifeln, Oakelꝰ?
„Das will ich nicht gerade ſagen. Aber in den ſechs-
zig Jahren, die ich in dieſer Welt lebe, habe ich ſo viele
Sorten von Menſchen und ſo viel curioſe Dinge geſehen,
daß ich vorſichtig geworden bin.“
„Oder mißtrauiſch vielmehr“
Die Sprechenden befanden ſich in einem mit Lux 18
und Geſchmack eingerichteten Zimmer des ſtattlichſten Ge-
bäudes von , einer Kreisſtadt im ſüdlichen Raßland,
in welcher de Onkel als oberſter kaiſerlicher Beamter
fungirte. Er war ein wohlwollender, aber ſcharfblicken-
der alter Herr, in aus den Oſtſeeprovinzen ſtammender
Deutſcher, der trotz mannigfacher Anſeindunzen unerſchüt-
terlich feſt anf ſeinesn Poſten ſtand, weil man höh'ren
O ts ſeine Treue und Redlichkeit wohl kannte. Paula
war die verwaiſte Tochter ſeiner ei zizen Schweſter, deren
gluckliche Ehe der Tod nur zu bald getrennt hatte. Als
der Vater, ein Gutsbeſitzer in Oberſchleſien, und bald da-
rauf auch die Mutter geſtorben war, hatte der Onkel des
verlaſſene Kind mi! väterlicher Liebe en ſein Herz genom-
men. Nachdem wir die beiden Puſonen dergeſtalt un-
ſern Leſern vorgeſtellt, kehren mir zu ihnen ſelbſt zurück.
Ihr Geſpräch, das von Seiten Panla's etwas empfiad-
lich zu werden drohte, war in demſelben Moment durch
den Eintritt einer dritten Perſon unterbrochen worden.
Oer neue Ankömmling war Fedor Petrowitſch Krapo-
virky, ein ſchöner junger Mann von etwa dreißiz Jahren
mit bleichem Teint und dunklen Augen. Sein Weſen
zeigte eine große Zmückhaltang, die einen etwas gezwang-
enen Eindruck machte
„Wir haben Sie bereits erwartet, lieber Freund.“
„Evtſchaldigen Sie, Paula Alex ndrowaa, ud auch
Sie, mein Herr“ erwiderte Fedor Petrowitſch, iadem er
ſich mit dem Anſtand eines Tanzmeiſters oder eines Thꝛa-
terregiſſeurs, der dem Publicum eine Mittheil ing machen
will, veraeigte. — „Das Glück, das mich erwartet, hat
mich verwiert und di: Zeit vergeſſen laſſen.“
Der alte Herr warf dem Bräuti om ſei er Nichte
einen ſeltſam forſchenden Blick zu, bemerkte aber nur:
„Nan, laſſen wir es git ſein. Ich habe nur darum Ih-
rem Erſcheinen mit Ungeduld entgegengeſehen, weil ich
Sie mit meinen Plänen bekannt machen wollte. Wenn
es Euch recht iſt, Kiader, ſo ſoll di: Hochz it morgen ſein.
Aber nicht in der Stadt wollen wir ſir ſeiern, ſondern
auf meinem Gute Dort babe ich in der Stille alle Vor-
bereitungen zu dim Feſt treffen laſſen. Morpen haben
vwir alſo Hochzeit; der Geiſtliche, die Trauzeu zen und die
Gäſte find ſchon geladem; dann bleiben wir noch ein paar
Wochen auf dem Lande und kehren erſt mit deu Winter
in die Stadt zurück. Habe ich meige Sa he gut emacht?“
„Geiiebter Onkel!“ rief Paula, ſich an ſeinen Hals
werfend. ö
„Sie machen mich zum Elücklichtten der Sterblichen“,
murmeite der Bräutizam. ö
Oer Wagen hielt bereits vor der Tzüäre, di: ſcGon
gepackten Koffer wurden aufzeladen, während di: Geſell-
ſchaft einen leichten Iubiß ei anahm.
„Jetzt i es aber Zeit, Kinder“, bemerkte Onkel
Conſtantin, die Uhr ziedend, — „Es iſt vunkt acht, und
vier Stunden dürften wir doch urt rwegs ſein. Helfen
Si⸗ mir doch, dieſe Ciſſette hinabzutragen“, wendete er
ſich mit virlſagenden Lächeln an Fedo: Piteo vitſch, —
„wir wollen das lisber nicht den Dienern anvertrauen.“
Die beiden Männer ergriffen j'der einen Ri ſia der
ſchweren kupferbeſchlageuen Caſetts und Paula folgte
ihnen ſchweigend. Bald hatten unſere Reiſenden die Stadt
hinter ſich und der Wagen rollte mit beſchleugigter Ge-
ſchéwiadigkeit über die öde braune Haide bahin. Es war
ein warmer; aber trüber Septemberabend, feuchte Düͤuſte
ſiegen aus dem Erdboden bervor und ballten ſich in der
Laft zu allerh and phantaſtiſchen Gebelden zuſamm in.
„Oalkel“, ſagte Paula plötztich — „häten wir nicht
lieber erſt morgen früß wegfahren ſollen?“
„Vielleicht; aber Morgeus werden die Damen nie
mit ihrer Toilette fertig “
Es wurde wieder ſtill. Der Onkel ſchlum nerſe in
ſeiner Wagenecke und Paula t⸗äumte, in den weißen
Nebel hinausſtarrend. ö
„Die Nacht ſcheint ſer dunkel zu ſn“, äaßerte
Imn Petrowitſch, ſeinerſeits das Sch vei en bre-
end.
Mittwoch, den 4. Oetober 1876.
9. Jahrg.
Nr. 76.
Erſcheint Mitiwoch und Sanſtag. Preis manailich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
ö und bei ben Trägern. Auswärts bei ven Landboten und Poſtanſtalten.
Eiu Naubauſall und feiue Folgen.
„So glaubſt Du alſo nicht, Ookel, daß man mich
nn meiner ſelbſt willen lieben könne?“
„Doch, mein armes liebes Kind, aber
„Aber ich bin ſchlecht gewachſ u, mein Geſicht ik durch
Pock⸗nnarben entſtellt, ich bin käßlich mit einem Wort!“
„Du haſt eine ſchöne Seele, Paule, Du biſt ſchön
füe einen Mann von Herz und Gemütb. ö
„So! tei Dian Fedor zweifeln, Oakelꝰ?
„Das will ich nicht gerade ſagen. Aber in den ſechs-
zig Jahren, die ich in dieſer Welt lebe, habe ich ſo viele
Sorten von Menſchen und ſo viel curioſe Dinge geſehen,
daß ich vorſichtig geworden bin.“
„Oder mißtrauiſch vielmehr“
Die Sprechenden befanden ſich in einem mit Lux 18
und Geſchmack eingerichteten Zimmer des ſtattlichſten Ge-
bäudes von , einer Kreisſtadt im ſüdlichen Raßland,
in welcher de Onkel als oberſter kaiſerlicher Beamter
fungirte. Er war ein wohlwollender, aber ſcharfblicken-
der alter Herr, in aus den Oſtſeeprovinzen ſtammender
Deutſcher, der trotz mannigfacher Anſeindunzen unerſchüt-
terlich feſt anf ſeinesn Poſten ſtand, weil man höh'ren
O ts ſeine Treue und Redlichkeit wohl kannte. Paula
war die verwaiſte Tochter ſeiner ei zizen Schweſter, deren
gluckliche Ehe der Tod nur zu bald getrennt hatte. Als
der Vater, ein Gutsbeſitzer in Oberſchleſien, und bald da-
rauf auch die Mutter geſtorben war, hatte der Onkel des
verlaſſene Kind mi! väterlicher Liebe en ſein Herz genom-
men. Nachdem wir die beiden Puſonen dergeſtalt un-
ſern Leſern vorgeſtellt, kehren mir zu ihnen ſelbſt zurück.
Ihr Geſpräch, das von Seiten Panla's etwas empfiad-
lich zu werden drohte, war in demſelben Moment durch
den Eintritt einer dritten Perſon unterbrochen worden.
Oer neue Ankömmling war Fedor Petrowitſch Krapo-
virky, ein ſchöner junger Mann von etwa dreißiz Jahren
mit bleichem Teint und dunklen Augen. Sein Weſen
zeigte eine große Zmückhaltang, die einen etwas gezwang-
enen Eindruck machte
„Wir haben Sie bereits erwartet, lieber Freund.“
„Evtſchaldigen Sie, Paula Alex ndrowaa, ud auch
Sie, mein Herr“ erwiderte Fedor Petrowitſch, iadem er
ſich mit dem Anſtand eines Tanzmeiſters oder eines Thꝛa-
terregiſſeurs, der dem Publicum eine Mittheil ing machen
will, veraeigte. — „Das Glück, das mich erwartet, hat
mich verwiert und di: Zeit vergeſſen laſſen.“
Der alte Herr warf dem Bräuti om ſei er Nichte
einen ſeltſam forſchenden Blick zu, bemerkte aber nur:
„Nan, laſſen wir es git ſein. Ich habe nur darum Ih-
rem Erſcheinen mit Ungeduld entgegengeſehen, weil ich
Sie mit meinen Plänen bekannt machen wollte. Wenn
es Euch recht iſt, Kiader, ſo ſoll di: Hochz it morgen ſein.
Aber nicht in der Stadt wollen wir ſir ſeiern, ſondern
auf meinem Gute Dort babe ich in der Stille alle Vor-
bereitungen zu dim Feſt treffen laſſen. Morpen haben
vwir alſo Hochzeit; der Geiſtliche, die Trauzeu zen und die
Gäſte find ſchon geladem; dann bleiben wir noch ein paar
Wochen auf dem Lande und kehren erſt mit deu Winter
in die Stadt zurück. Habe ich meige Sa he gut emacht?“
„Geiiebter Onkel!“ rief Paula, ſich an ſeinen Hals
werfend. ö
„Sie machen mich zum Elücklichtten der Sterblichen“,
murmeite der Bräutizam. ö
Oer Wagen hielt bereits vor der Tzüäre, di: ſcGon
gepackten Koffer wurden aufzeladen, während di: Geſell-
ſchaft einen leichten Iubiß ei anahm.
„Jetzt i es aber Zeit, Kinder“, bemerkte Onkel
Conſtantin, die Uhr ziedend, — „Es iſt vunkt acht, und
vier Stunden dürften wir doch urt rwegs ſein. Helfen
Si⸗ mir doch, dieſe Ciſſette hinabzutragen“, wendete er
ſich mit virlſagenden Lächeln an Fedo: Piteo vitſch, —
„wir wollen das lisber nicht den Dienern anvertrauen.“
Die beiden Männer ergriffen j'der einen Ri ſia der
ſchweren kupferbeſchlageuen Caſetts und Paula folgte
ihnen ſchweigend. Bald hatten unſere Reiſenden die Stadt
hinter ſich und der Wagen rollte mit beſchleugigter Ge-
ſchéwiadigkeit über die öde braune Haide bahin. Es war
ein warmer; aber trüber Septemberabend, feuchte Düͤuſte
ſiegen aus dem Erdboden bervor und ballten ſich in der
Laft zu allerh and phantaſtiſchen Gebelden zuſamm in.
„Oalkel“, ſagte Paula plötztich — „häten wir nicht
lieber erſt morgen früß wegfahren ſollen?“
„Vielleicht; aber Morgeus werden die Damen nie
mit ihrer Toilette fertig “
Es wurde wieder ſtill. Der Onkel ſchlum nerſe in
ſeiner Wagenecke und Paula t⸗äumte, in den weißen
Nebel hinausſtarrend. ö
„Die Nacht ſcheint ſer dunkel zu ſn“, äaßerte
Imn Petrowitſch, ſeinerſeits das Sch vei en bre-
end.