Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

DOI Kapitel:
Nr. 1- Nr. 8 (5. Januar - 29. Januar)
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.44635#0033

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
hHeidelberger Vollsblatt.

Nr. 8.

Samſtag, den 29. Januar 1876.

9. Jchrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Aus dunkler Zeit.
Sittenbild von Marie von Roskowska.

(Fortſetzung.)

Aber auch hier machte er einen Verſuch, nicht zu
vertheidigen, ſondern zu entſchuldigen. „Die Kerbelin iſt
ſelber ſo ſonderbar — ich fürchte, ſchon deit einer Reihe
von Jahren iſt ihr Verſtand etwas zerrüttet. Die Un-
glückliche iſt zu beklagen, allein Brechta darf man es
nicht verargen, daß ſie von Kindheit auf eine mit Furcht
und Schrecken gemiſchte Abneigung gegen ſie empfand.
Da ich häuſig mit den beiden kleinen Mädchen ſpielte,
hatte ich auch öfter Gelegenheit, Frau Elſabes Sonder-
barkeiten zu beobachten. In Erinnerung der Vergangen-
heit, in welcher ſie die hilfloſe Brechta, wie ihre Benig-
na, in den Armen gehegt, wollte ſie zuweilen das heran-
wachſende Mädchen ungeſtüm liebkoſen — was dieſem
widerwärtig ſein mußte.“
„Aus Stolz, ja!“ warf die Urgroßmutter ein. „Das
Kind war von jeher ſo hoffärthig, mochte die Vertrau-
lichkeit der armen Frau nicht dulden. ö
„Leider war es zum Theil Hochmuth, ſie hätte ſich
gegen dieſe Liebkoſungen nicht geſträubt, wäre Mutter
Kerbelin nicht eine geringe Fran geweſen“, das mußte
er zugeben. „Aber doch nur zum Theil! Die Zärtlich-
keit der Unglücklichen hatte etwas Unheimliches und
mußte einem Kinde Scheu einflößen. Später demüthigte
es ihren Stolz, daß ſie ſich vor den Armen ſcheute, was
ſie noch kälter und hochfahrender gegen dieſelbe werden
ließ. Dazu kam der bedauernswerthen Wittwe ihr nie
verwundener Verluſt zuweilen ſo zum Bewußtſein, daß
ihre heftigen Schmerzensausdrücke jedes Kind verſchüch-
tern mußten — jedes gewöhnliche Menſchenkind. Daß
Benigna in ihrem engelhaften Erbarmen mit jedem Leid
davon nicht zurückgeſcheucht ward, muß man bewundern,
darf aber Brechta nicht herabſetzen. Daß die Aermſte
an wirklicher Geiſtesſtörung litt, bewies ja die Härte,
womit ſie manchmal ſogar ihr Töchterchen von ſich ſtieß,
das ſie in ihrem Schmerze tröſten wollte. Zwar bat ſie
wieder mit eben ſo maßloſer Leidenſchaft um Verzeihung,
lag ſogar auf den Knieen vor der Gemißhandelten. Selbſt
das eigene Kind, wäre es eben nicht von ſo ſeltener, ſo
wahrhaft himmlicher Güte des Gemüthes, häͤtte ſich ab-
wenden müſſen von dieſem Gebahren.“

Die Neunzigjährige faltete die zitternden Hände.
„Gott gebe ihr den Frieden — des Her zens. Denn um
den ewigen wollen wie für ſie noch nicht, wie für mich,
bitten — es träfe Benigna zu hart.“ ö
„Jedenfalls ſollte Benigna nicht verlaſſen ſein.“
Der Matrone mochte bei ſeinem warmen Ausruf ein
Gedanke kommen, der ſie verwirrte und peinlich berührte.
Betreten hob ſie die Augen zu ſeinem Antlitz und ließ
ſie ſo forſchend darauf ruhen, daß er, ſelber brtroffen,
ſich von ſeinem Stuhl erhob und zum Fenſter treten
wollte. ö

Aber er mußte wieder zurückkehren zu ihr. Sie ſagte:

„Der Phyſikus ſprach damals, als wir ihn um Rath
fragten, er vermöge der Kerbelin nicht zu helfen, da es

keine Medicamente gäbe ſür eine kranke Seele. Nur die

Zeit könne ihren Harm lindern und — Gott. Der Zu-
ſpruch des Pfarrers machte ſie allerdings ſtiller, doch
nicht ergebener in ihr Geſchick; ſie zeigte ſich nur ver-
ſchloſſener, mied die Menſchen, ſelbſt uns, legte ſich auf
das Kräuterſammeln, ſtreifte in Feld und Wald umher,
zu Tages⸗ und Jahreszeiten, in denen jeder Chriſtmenſch
gern daheim iſt in ſeinen vier Pfählen.“
Da ſie nicht mehr ſo gut hörte als einſt, auch leiſe
ſprach, mußte Jeder, der mit ihr redete, in ihrer Nähe
bleiden — am warmen Ofen, von welchem ſie, die ſelbſt

in den heißeſten Sommertagen beſtändig fröſtelte, im

Winter niemals ihren Stuhl forttragen ließ. So konnte
Sigismund keinen Blick auf die Gaſſe hinabwerfen.
Da trat Benigna ein — ohne Schaube und am

Ofen des Nebenzimmers wohl durchwärmt, damit ſie

nicht kalte, der Greiſin ſchädliche Luft herzubringe.
Gütig, ja liebevoll ward ſie von dieſer begrüßt. Mit
zärtlicher Fürſorge ordnete ſie erſt die verſchobenen Kiſſen
am Rücken und unter den Armen der Matrone, bevor
ſie ſich auf einen niedern Schemel zu deren Füßen nie-
derließ.
Sie mußte berichten, wie es der Mutter gehe, und

that das nur im Allgemeinen, ohne der geſtrigen Auf-

tritte zu erwähnen. Offenheit nützte ja nichts, betrübte
nur ihre wohlwollenden Gönner. Auch liebte die Mutter

derartige Mittheilungen nicht, ſelbſt wenn ſie ſelber zz

ſolchen aufgelegt geweſen wäre. Dann kam die alte
Engernſteinin auf den geſtrigen Ehrentanz, von dem ſie
natürlich gehörte hatte und drohte lächelnd mit dem
Finger. ö
„Ei, Kind, was mußte ich hören — mein Sohn er-
 
Annotationen