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Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

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Nr. 35 - Nr. 43 (3. Mai - 31. Mai)
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Nr. 39.

Heidelberger Volksblatt.

Mittwoch, den 17. Mai 1876.

— 9. Zobig.

erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelme Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verletzer, Schiffgaſſe 4
ö und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Eine Partie Schach um's Leben.

In der Gaſſe St. Honorè in Paris findet man jetzt
noch ein altes düſteres Kaffeehaus, welches ſchon ſeit
Jahrhunderten der Sammelort und das „finde mich“
der erſten und beſten Schachſpieler geweſen.
Während der Greuelwirthſchagt der franzöſiſchen Re-
vslution war dieſes ſonſt beliebte, beſuchte Kaffeehaus

ſo zu ſagen ganz verlaſſen, blos von einigen Journali-

ſten und Studenten frequentirt, die ihre Partien auszu-

ſpielen nicht die größte Luſt hatten, außerdem diefer Zer-

ſtreuung in den damaligen Wirren nicht ſehr bedurften;
denn über jedem Haupte ſchwebte unſichtbar das Da-
moklesſchwert und wer heute noch frei umherging,
ſchmachtete vielleicht ſchon morgen im tiefſten Bagno
— blutete unter dem Beile der ſchnelltödtenden Guil-
otine.
Aus den Fenſtern des Kaffeehauſes boten ſich dem
Auge die herzergreifendſten Scenen, — Scenen, bei
deren Anblick ſelbſt den Muthigſten, Kaltblütigſten ein
froſtiger Schauer durchlief. —
Täglich, ja ſtündlich ſah man rothbehemdete Henkers-
knechte unſchuldige Opfer zur Schlachtbank führen, ſtünd-
lich Wagen Verurtheilter zum Richtplatz fahren.
An einem trüben Nachmittage lenkte eine im grauen
Maniel gehüllte Geſtalt die Schritte dem Kaffeehauſe
zu. — Die ihr Betzegnenden wichen ſcheu ſchon auf Ge-
fichtsweite aus, denn Jedermann erkannte, trotz Ver-
mummung, den Schreckensmann Frangois Iſidor Robes-
pierre. Zu Arras im Jahre 1758 geboren, durchmachte
er in kurzem Zeitraume eine gane Scala von Ehren-
ämtern. — „Mit einer Hand voll Gewalt kommt man
weiter, als mit einem Sack voll Recht“, dieſes ſchien
ſein Lebensſatz geweſen zu ſein.
Vem demagogiſchen Volksredner und Tagesſchrift-
ſteller ſchwang er ſich zum Haupte der fanatiſch⸗demo-
kratiſchen Partei empor, beherrſchte den Jakobinerclub,
drang als Conventsmitglied auf die Verurtheilung Lud-
wig XIV. zum Tode, ſetzte 1793 (Juni) die Aechtung
der „Aeußerſtrechten“ durch und übte als Präſident des
Wohlfahrtsausſchuſſes die Dictatur aus.
Auf das Steinherz dieſes Mannes machten die blu-
tigſten Scenen nicht den mindeſten Eindruck und ſo war
er einer der Wenigen, die täglich im Kaffeehauſe er-

ſchienen, um gewohnheitsgemäß ein paar Partien zu
pielen. ö ö
Obzwar nicht den beſten Schachſpielern zugehörig,
wirkte ſein Blick, ſeine ganze Erſcheinung ſo ſehr be-
fangend, daß aus unerklärlicher Furcht oft der ausge-
zeichnetſte Schachſpieler die Partie verlor. Daher kam
es, daß Robespierre oft lange Zeit müßig ſaß, ohne
einen Spielfreund zu finden, denn Niemand gereichte es

zum Vergnügen, ihm gegenüber zu ſitzen oder gar zu

ſpielen. Am obenerwähnten Nachmittage, als er im
Kaffeehauſe auf einen Gegner wartete, trat ein junger
Mann mit nabezu mädchenhaften Zügen in das Spiel-
zimmer. Dunkelſchwarze Locken ringelten ſich aus der
neckiſch ſitzenden Sammetkappe, feurige Augen ſchweiften
ſuchend über die Geſichter der Spiꝛlenden.
Endlich ſchien er das Geſuchte gefunden zu haben,
langſam naht er dem Tiſche, an welchem Robespierre
mit gefurchter Stirne ſinnend ſaß. Wortlos ſetzt er ſich

als Gegner nieder und beginnt den erſten Zug der be-

reits in Schlachtordaung geſtellten Schachfiguren. ö
Robespierre nimmt das Aquit an und die Partie
beginnt. ö
Lautloſe Stille war im Saal, nur die Fliege ſummte
ein düſteres Lied, nur das Rücken der Figuren ſtörte
die feierliche Rays. Allmählich füllte ſich der Saal mit

müßigen, doch traurigen Zuſchauern, auf deren Geſichtern

man deutlich eſen koente, daß ſie ihr Leben in Gottes
Hand geſtellt. ö
Geräuſchlos nahten ſte dem Tiſche und verfolgten
das erſte Spiel. An des jungen Mannes ſchönen Züzen
arbeiteten im Fieber die Muskeln, ſein Athem ſchien zu
ftocken, nur ſein Herz pochte laut. — Einmal erhob der
junge Mann ſein Auge, um denen Robespierres zu be-
gegnen, — aber ſchlug ſchnell es wieder nieder, als vor
dem Blicke eines Baſilisken: ſichtlich ſchauerte er zu-
ſammen, als die kalte Hand Robespierre's die ſeigige
frrelfte, karz er konnte die Qual, die er duldete, nicht
verbergen.
Deſſenungeachtet wurde die Partie mit Bedacht, wenn
auch mit einer Art convulſtviſcher Aufregung geſpielt.
DOer junge Mann machte Züge, aus denen man er-
ſehen konnte, er ſei Meiſter im Schachſpiel. —
Minuten peinlicher Ungeduld rannen in die Ewigkeit
die Aufrezung ſchien den Culminationsvunkt erreicht zu
haben, als plötzlich voa den ſchönen bartloſen Lippen
 
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