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Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

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Nr. 26 - Nr. 34 (1. April - 29. April)
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Heidelberger Volksblatt.

Nr. 84.

Samſtag, den 29. April 1876.

9. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Priis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleg er,
ö und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten. ö

Schiffgaſſe 4

Der Geiger.
Ein Lebensbild aus dem Franzöſiſchen von Bentgen.
(Fortſetzung.)

Tauſende weiche und einſchmeichelnde Eindrücke hat-
ten ſich Jobs Seele ſchon bemächtigt, ehe er das in
ſonntäglicher Ruhe daliegende Dorf betrat; es war ge-
rade die Zeit des Nachmittagsgottesdienſtes. Die verein-
zelten Windmühlen bewegten kaum ſichtbar ihre langen
Arme; die kleinen Wölkchen warfen hie und da flüchtige
Schatten auf den lehmigen Uferſand, vor welchem einige
Fiſcherbarken, die Segel nachläſſig nach einer Seite hin
gelegt, ſchlummerten, es ſchien als wenn die ganze Natur
ſich der Ruhe des Sonntags erfreue. Die wenigen Lä-
den waren ſelbſtverſtändlich geſchloſſen mit Ausnahme
des jenigen des Barbiers und di? Schenke. Erſterer war
ine Art von Club, ein Verſammlungsort für die Ge-
vattern, wo die Neuigk iten gebraut wurden, man ronnte
ihn ſchon von Weitem durch einen glänzenden Raſir-
teller erkennen, den der Wind nach allen Richtungen
hin und her wehte. Ein kleiner Spiegel war noch im

Schilde angedracht und hier begegneten Jobs Augen

zu ſeiner groͤßten Verwunderung einem Geſicht, das
kaum noch menſcklich war, ſo ſehr überwucherte es der
Bart. — Großer Gott, dachte Job, Jeannie hat mich
ſo geſehen! — Entweder hatte er noch nicht alle Eltel-
keit dieſer Welt abgeſtreift oder ſie war bei dieſen Ge-
danken zurückgekehrt, kurz er trat in den Laden und un-
ter dem geſchickten Meſſer des Barbiers verſchwand der
Einſiedler von Lavrot für immer und Job der Geiger
nahm deſſen Stelle wieder ein; ſehr abgemagert aller-
dings und hohläugig, um zehn Jahre gealtert, wie es
ben nach einem Aufenthalt im Fegfeuer nicht anders
ſein konnte. ö
Mit ſeinem früheren Geſicht wollte der Geiger aber
auch ſeine früheren Kleider wieder anziehen, die ſtets
ausgeſucht, nett und ſauber waren und ihm den Spitz-
namen „Stutzer“ zugezogen. Einſtweilen verſah ihn der
gutmüthige Barbier in Ermangelung von etwas Beſſerem
mit einer geſtrickten wollenen Jacke, leinen Beinkleidern
und Wäſche, die wenn auch nicht gerade fein, doch friſch
war. Indem der gute Mann Job bei ſeiner Toilette
half, plauderte er ohne Unterlaß. So gerne er dies auch
gethan, ſo wagte er doch nicht, ihn wegen ſeiner uner-

warteten Rückkehr aufzuziehen, denn er kannte hinlänglich
Job Saiaker, um zu wiſſen, daß er bei aller Gut-
müthigkeit ſich nicht eben viel gefallen ließ. Aber nach-
dem er mit mehr oder weniger Malice von aller Welt
geſprochen, konnte er ſich doch nicht enthalten, auch des
neueſten großen Ereigniſſes, das auf der Jaſel paſſirt,
zu erwähnen.
Meiner Treu, ſagte er, die Leute im Ort werden
ſich teufelmäßig freuen, daß Du wieder nach Hauſe
kommſt, nur damit der Herr Paſtor nicht mehr von früh
bis ſpät Dein Beiſpiel allen Denen vorhält, die keine
Einfiedler geworden ſind. Armer Mann! wie ſtolz war
er auf ſein Bekehrungswerk; es war, als ſpräche er
vom heiligen Mode ſelbſt. Seit geſtera, da die Kerla-
nous Dich verklagt haben, iſt er ganz wüthend, aber
weniger über Dich, als über Jeannie, ſein ganzer Zorn
trifft das Mädchen. Er wirft ſich ſelbſt vor, jemals
dieſer Verworfenen noch etwas Gautes zugetraut zu ha-
bed. O, er hat fie auf der Kanzel noch mit ganz aa-
deren Namen genannt und hat allen Leuten, die noch
etwas auf ſie halten, verboten, ſie in Zukunft bei ſich
aufzunehmen. Auch auf ſeinen Rath hin, ſagt man,
hätte ſie ihr Bruder fortge jagt.
Wie, ſie haben Jeannie fortgej igt? frug Job wie

verſteinert.

Beſſer fortjagen, als ſie um's Leben bringen, was
ihr Bruder zuerſt wollte. Alle Teufel, Du mußt ein-
ſehen, daß für eine Familie, welche erlebt hat, was die
Kerlanou's erlebt haben, es ein arger Schimpf iſt, bei
Nacht durch's Meer waten und die Heiligen in Ver-
ſuchung zu führen ... Dabei brach der Barbier in
ein rohes Lachen aus, das übrigens ſehr raſch unter-
brochen wurde, denn Jobs Fauſt fiel mit ſolcher Wucht
auf des Lachers Räcken, als hinreichenden Beweis, daß
die Kaſteiungen izm nicht alle Kraft wezgenommen

hatten.

Ou lügſt, ſchrie er, Jeannie iſt ein ehrliches Mäd-
chen, die aus Mitleid zu einem armen Kranken kam,
um ihm Hilfe zu bringen. ö
Zu einem Kranken oder einem Liebhaber, das iſt
mir ganz einerlei, antwortete der Barbier, indem er ſich
die geſchlagene Stelle rieb. Aber Du haſt nicht nöthig
die Leute zu mißhandeln, die Dir nur das wiederholen,
was ſich alle Welt erzählt. Auch würde ich an Deiner
Stelle nicht ſo lebhaſt Partei für das Mädchen nehmen.
 
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