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Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

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Nr. 26 - Nr. 34 (1. April - 29. April)
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gHeidelberger Volksblatt.

Nr. 27.

Mittwoch, den 5. April 1876.

9. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag.

Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleg er, Schiffgaſſe 4

und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Der Geiger.
Ein Lebensbild aus dem Franzöſiſchen von Bentgen.
(Fortſetzung.)

Die weniger Strenggläubigen mußten trotz alledem
ſeine Charakterſtärke bewundern und vielleicht uoch mehr
die Kraft ſeiner Fäuſte und ſeiner mächtigen Stimme,
die wie zum Befehlen geſchaffen war. Auch konnte fie
ſeiner allbekannten Selbſtverleugnung und Uneigennützig-
keit ihre Achtung nicht verſagen, denn er hätte ſein arm-
ſeliges Pfarrhaus und ſeine ländliche Heerde nicht für
einen Biſchofsfitz verlaſten. Er hatte gelobt, ſein Leben
der Aufgabe zu widmen, auf ſeinem abgeſchiedenen Fel-
ſeneiland eine Gemeinde von Heiligen heranzuziehen, die
Inſel zu einem vor dem Herrn bevorzugten Schifflein
zu machen, welches den Hafen der himmlichen Glück-
ſeligkeit vor Allen Andern erreichen würde, während die
ganze Welt noch in der Finfierniß herum irrte. Zu
dieſem Zweck donnerte er unabläſſig gegen jeden ihm ſo
ſehr verhaßten Fortſchritt irgend welcher Art, ſelbſt in
der Bretagne.
Seine alterthümliche Sprache mit den tiefen Kehl-
lauten, die er meiſtens zum Strafen und Verfluchen ge-
brauchte, hatte einen wilden, unnachahmlichen Klang.
Die ſonntäglichen Predigten beſtanden aus Verwünſchun-
gen von dreierlei Art. Der erſte und verhältnißmäßig
gelindeſte Bannſtrahl wurde gegen die Schenke und das
Trinken überhaupt gerichtet — was ihm begreiflich die
Frauen nicht zum Schlimmen auslegten — der zweite
ſollte ſämmttiche Bücher und ihre Verbreitung treffen,
von welchem Gift er übigens ſchon ſelber ſeine Jaſel
vollſtändig frei zu halten wußte. Der dritte und aller-
furchtbarſte Bannſtrahl wurde und zwar mit eigem un-
willkürlichen Gefühle des perſönlichen Haſſes geſchleudert
gegen das Tanzen oder auch nur die Muſik, denn dieſe
betrachtete er für die abſcheuliche Verführerin und auf-

reizende Gelegenheitsurſache zu ſolch ſündlichem Ver-

gnügen. Sein Schimpfen und Eifern über dieſe Sün-
den kannte keine Grenzen und richtete ſich hauptſächlich
gegen einen Mann, der unter der Menge verloren, fich
lange Zeit damit begnügte, ſtillſchweigend die Achſeln zu
zucken, bis er eines ſchönen Sonntags die Geduld ver-
lor, zr Kirche heraus und nie wieder hereinging, ſo
daß man ihn bereits für förmlich excommuntzirt anſah.

Job der Geiger lebte in einer von den übrigen Be-
wohnern Brohats völlig verſchiedenen Weiſe. Als kleiner
Junge hatte er Lifrig die Schule ſeiner Heimath beſucht
und war — Paſtor Flech beſtätigte es mit einem Seuf-
zer und einer Anſpielung auf die gefallenen Engel —
das Muſter für die anderu Chorknaben geweſen. Seine
Mutter ſtammte aus der milden Gegend von Targuier,
wo die ſchönen Stimmen zu Hauſe ſind und der Dialekt
der wohllautendſte der ganzen Gegend iſt. Sie hatte
ihn Tag und Nacht mit ihrem Geſang eingewiegt, denn
ſie war frühzeitig Wittwe geworden und hatte nur ihn
zu lieben und zu pflegen. Schon als Kind zog er dieſe
einfachen Volkslieder dem Spiel mit ſeinen kleinen Ge-
fährten vor; unwillkürlich gewannen dieſe melodiöſen
Lieder einen Einfluß über ſein Herz, ſein Gemüth und
ſeine Geiſtesrichtang, die für ſein ganzes künftiges Le-
ben entſcheidend wurden. Aelter geworden, wurde ihm
die eigentliche Mufik durch die Wittwe eines Capitäns
von einem Wallfiſchfahrer, Namens Lezorek — die Hei-
lige der Juſel — erſchloſſen. Bis dahin kannte er ſie
nur aus den Liedern ſeiner Mutter, den alten Balladen,
Echos der Vergangenheit, aus dem melancholiſchen
Glockengeläute ſeiner kleinen Kirche und dem Rauſchen
der Wellen. Als er aber nun eines Tages dieſe Dame
auf dem Piano fpielen hörte, erfaßte den Knaben eine
ſolche Sehnſucht, daß die Menſchen in ſeiner Umgebung,
die einen ſolchen Idealismus nicht begreifen konnten, ihn
für verliebt hielten. Auf ſein inſtändiges Bitten unter-
wies ihn die gütige Frau in den Anfanzsgründen und
als er mit einer Art Ehrfurcht die erſten Akkorde auf
dem Piano greifen konnte, war ſein Entzücken unbe-
ſchreiblich. Die Mufik war fortan der einzige Gegen-
ſtand ſeiner Gedanken bei Tag, ſeiner Träume des Nachts,
und in dem Alter, in welchem die andern Burſchen ihre
Reiſe um die Welt antraten, um Geld zu verdienen, ver-
kaufte der junge Job im Gegentheil ein Stück ſeiner
väterlichen Ländereien, um eine Reiſe nach Frankreich zu
machen, in keiner andern Abficht, als ſich in der Muſik
auszubilden. Dieſen Zweck erreichte er, ſoweit dies
moͤglich war, er kehrte zurück, zwar mit leerem Beutel,
aber mit einer Geige, die er beſſer zu ſpielen verſtand,
als Madame Lezorck ihr vielbewundertes Piano.

Bald drang das Gerücht bis zu dem Paſtor Flech,
daß des Sonntags nach dem Nachmittagsgottesdienſt die
Dorfjugend ſich auf der Wieſe vor dem Dorfe ver-
ſammle, woſelbſt der Geiger von einem alten Weiden-
 
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