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Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

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Nr. 61 - Nr. 69 (2. August - 30. August)
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Heidelberger Vollsblatt.

Nr. 69.

Mittwoch, den 30. Auguſt 1876.

9. Jahrg.

Erſcheint Miitwoch und Samſtagg. Preis monailich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Sandboten und Poſtanſtalten.

Die PräfibentiNu.
Kriminalgeſchichte von J. D. H. Temme.

(Fortſetzung.)

Hält ſie ſich gut, ſetzte die mitleidige Dame hinzu,
ſo kann ne ganz hier blerber.
Die Fremde hielt ſich gut. Sie war immer anſpruchs-
los, beſcheiden, ſtill; ſie fuchte und verſtand ſich nötzlich
zu machen; war in mancherlei Frauenarbeiten erfahren.
Sie gefiel auch der Generalin, der ſie ſich vorſtellen mußte.
Sie durfte ganz im Schloſſe bleiben. Sie wurde der
Oberaufſeherin der Wäſche des Schloſſes als Gehilfin
zugetheilt. Sie bewährte ſich ausg'zeichnet in dem Dienſte
Ale xia Sʒladat hieß fie. Sie war einige zwanziz
Jahre alt. Sie war eine große, ſchlanke Geſtalt; ihr
fein geſchnittenes Geſicht hatte anmuthie Züge. Die ſtille
Trauer, die über ihter ganzen Erſchrinung ausgebreitet
war e 1 einen beſonderen Reiz.
e ſprach polniſch und deutſch.
ene Deutſch. polniſch ſch. Ihre Mutter ſei
Sie war ſechs Wochen lang im Schloſſe Ihr Be-
nehmen war immer daſſelbe. Sie war ſtill, fleißig, auf-
merkſam und freundlich gegen Jedermann, geli ꝛbt und ge-
achtet vor Allen. Ihr Betragen war das ſit ſamſte.
Auffallend konnte nur eines an ihr ſein, ſie ſchloß ſich
an Niemanden näher an, wurde mit Reinem vertraut.
Man konnte das freilich aus ihrer Lage erklären; ſeit
ihrer Flucht aus Polen hatte ſie nicht die geringſte Kunde
aus ihrer Heimat oder über ihre Eltern erhalten! ſie
mußte fürchten, deren Schickſal ſei das unglüͤcklichſte ge-
weſen. Dauerte doch noch immer die Revolution drüben
fort, wurden doch ihre Gräuel voa Tag zu Tag grau-
ſame 6 Taer
nes Tages war ſie plötzlich verſchwunden.
Sie hatte ſich des Abends zu der gewo znlichen Zeit
in ihr Schlafgem ach begeben. Dieſes las in dem alten
Schloſſe zu ebener Erde. Sie ſchlief alleia darin. Am
andern Morgen kam ſie nicht wieder zum Vorſchein. Sie
wurde bri der Arbeit vermißt. Man ſuchte ſie ia ihrem
Stübchen. Die Thür war verſchloſſen. Man rief ihren
Namen, es erfolgte keine Antwort. Die Thür wurde
gewaltſam geöffnet. Das Gemach war leer; das Bett
war nicht berührt; das Fenſter ſtand offen. Sie hatte

Kleidung au'getauſcht.

durch das niedrig gelegene Parterrefenſter ohne Gefahr
und ohne Mühe ins Freie gelangen können. Sie hatte
nichts mit ſich grnommen als die Kleider an ihrem Koͤr⸗
per; und es waren dieſelben, in denen ſie auf Schloß
Romnile angekommen war. Sie war hier mit neuer
Kleidung beſchenkt worden, die ſie getragen hatte; fie hatte
ſie vor iirer Flucht gegen die alte einfache bürgerliche
Ste hatte andere Geſchenke be-
kommen; ſie halte auch davon nichts mit ſich genommen.
Piötzlich und räthſelhaft, wie ſie erſchtenen war, war
ſie wieder verſchwunden.
Für eine Perſon im Schloſſe war ſie ſchon ſeit eini-
ger Zeit eine räthſelhafte Erſcheinung geweſen, für die
Frau Erhardt. ö
Oer Frau, die Vieles erlebt, Vieles zu beobachten
Gelegen heit gehabt und daher viele Menſchenkenntniß ſich
erworben hatte, wollte bisweilen der Unſtand ſonderbar,
gar verdächtig werden, daß „die Polin“, wie ſie in dem
Schloſſe genaunt wurde, ſich an Niemanden anſchloß, daß
vir Imehr das Herz, das von Heimat und Eltern ſich hatte
losreißen müſſen, das täglich Trauerkunden aus jener
vernahm, Schreckensaachrichten über das Schickſal der
theuerſten Angehörigen jeden Augenblick entgegenſehen
mußte, daß dieſes Herz vielmehr geſjen alle Theilnahme,
gegen alles ihm angetragene Vertrauen ſich abſchloß. Das
ſei unnatürlich, ſagte ſich die erfahrene Frau. Sie bꝛob-
achtete die Polin. Lange gewahrte ſie nitzts, was ihren
Verdacht nur irgend einige Nahrung hätte geben können.
Sie beſchloß beſtimmte Süritte zu thun. ö
Sie trat eines Nachmittags plötzlich in Rie Plättkam-
mer, in der ſie die Polin und zwar ganz allein beſchäf-
tigt wußte. Die Polin war allein darin; ſie konnte auch
in ſofern beſchäſtigt erſcheinen, als ſie ein Stück Wäſche
zum Zuſammenfalten in den Händen hielt. Aber ſie
war ſichtlich erſchrocken über das unvermuthete Eintreten
eines Menſchen und ſie hatte ſo ſehr die Geiſtesgegenwart
verloren daß ſie ihr Erſchrecken auf unglückliche Weiſe
zu verbergen ſuchte. Sie ſtand an einem offenen Fenſter
der Kammer und wie die Thür ſich öffnete, bog ſie aus
dem Fenſter ſich hinaus, als wenn ſie ruhig hinausſchaue.
Die Frau Erhardt hatte die Bewezun ge ſehen. Sie
verrieth dies durch nichts, ſpꝛach karz einen Befehl der
gnädigen Frau und entfernte ſich wieder. Eine Spur
von Verlegenheit hatte die Polin weiter nicht gezeigt. Der
Verdacht der Kammerfeau war ſtärker geworr en.
Das Fenſter der Plättkammer führte in einen jener
 
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