Nr. 38.
Heidelberger Volksblatt.
Mittwoch, den 26. April 1876.
9. Jahrg.
erſcheint Mittwoch und Samfag. Preis monaklich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schifgaſſe 4
ö und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten. ö ö
Der Geiger.
Ein Lebensbild aus dem Franzöſiſchen von Bentgen.
Cortſetzung.)
Die trockene, brennende Hand Jobs ſchien durch die
Berührung der ihrigen gekühlt und erfriſcht zu werden,
er fing ruhiger an zu athmen und Jeannie fand dies
nur natürlich, denn ſie hatte oft auf dieſe Art ihr kran-
kes Kind beruhigt. ö
Aber was anfangen? So oft ſie aufſtand um weg-
zugehen, wurde ſie durch eine Bewegung des Kranken.
zurückgehalten. So verſtrich eine Weile Zeit, bis das
Mädchen endlich mit ſchwerem Herzen ihren Entſchluß
faßte und hinousging.
Aber wer beſchreibt ihr Entſetzen, als ſie vor die
Thür des Hauſes trat. Das Meer war bereits im An-
zug und näßerte ſich ſo raſch, daß an ein Fortgehen
nicht zu denken war, ſobald ſie die oben erwähnte Straße
betreten hätte, würde ſie unfehlbar fortgeſchwemmt wor-
den ſein. Der regelmäßig wiederkehrende Kampf des Ele-
mentes mit den Klippen hatte begonnen, das Waſſer um-
ringte ſchon die am meiſten hervorſpringenden Felſen mit
tauſend Schwingungen, beſpielte als Vorſpiel die Füße
derſelben, ehe es zum ernſtlichen Angriff ſchritt urd von
allen Seiten zugleich Terrain gewann, wie ein Raub-
thier zuerſt mit ſeiner Beute ſpielt, ehe es ſie verzehrt.
Noch hatte das Herannahen der Fluth, don den ſandi-
den Dünen verdeckt, ſcheinbar nichts Erſchreckendes, aber
nur noch einige Secuaden und der Verwegene, der ſich
zwiſchen die noch herausguckenden Felſen gewagt, wäre
ſicher dem Untergang entgegen gegangen. — Jeannie
wußte woran ſie war. Am Ufer zuſammenzeſunken ver-
folgte ſie mit ſtierem Blick das Gebahren des treuloſen
Elrmentes, das immer mehr und mehr das Plateau ein-
engte, welches eben noch einer weiten Steppe glich. Eine
einzige Hoffnung blieb ihr und die war noch ſehr zweifel-
haft, nämlich irgend eine Barke za erſpähen. Da es aber
gerade die Zeit der Herbſtgleichen war, wo die Schiffe
den ſchützenden Hafen nicht gerne ohne Noth verlaſſen,
ſo blieb es mehr als unwahrſcheinlich, daß ſich eine in
Gehörsweite verirren ſollte. Nichtsdeſtoweniger rief ſie
aus Leibeskräften um Hülfe und Reinette ſchrie mit
durchdringender Stimme dazwiſchen. Als hätte ſich an
dieſem Tage Alles gegen das arme Mädchen verſchwo-
ren, ſo hatte ſich gegen Sonnenuntergang ein heftiger
Wind erhoben, der es ihr unmöglich machte, ihre eigene
Stimme zu verſtehen. Der Sturm wurde ſo arg, daß,
wollte ſie nicht mit ihrem Kinde weggeweht werden, ſie
abermals in der Hütte eine Zuflucht ſuchen mußte. Zu
ihrer großen Verwunderung fand Jeannie den Einſiedler
aufgeſtanden und mit einem aten zerlumpten Rock be-
kleidet. Als er nämlich nach einem kurzen Schlaf er-
wachte und ſie nicht mehr ſah, war er zweifelhaft, ob
ihre Erſcheinung Traum oder Wirklichkeit geweſen und
hatte ſein Lager verlaſſen, um ſich darüber Gewißheit
zu verſchaffen. Bei ihrem Eintritt rief er wie erleichtert
aus: So habe ich alſo nicht geträumt! —
Ohne ein Wort zu erwiedern deutete Jeannie durch
die offene Thür nach den Wellen, die ſich näher und
näher heranwälzten. —
Nun gut, ſagte Job mtt unverhehlter Freude, Ihr
ſeid ja hier beide geborgen, wartet die Ebbe ab.
Warten bis morgen? — Und was werden bis da-
hin meine Brüder ſagen? Sie werden eine Urſache mehr
haben, mich auszuzanken, und fägte ſie wie zu ſich ſelbſt
redend hinzu, indem ſie eine Taräne zerdrückte, als wenn
es nicht ſchon genug wire! ö
Seit einigen Minuten fühlte ſich Job nicht mehr
krank, weder körperlich noch geiſtig. Seine Krankheit
war überhaupt nichts Anderes als die Folge überreizter
Nerven und ſeiner ſo lange fortgeſetzten aszetiſchen Le-
bensweiſe. Das plötzlich in ſeinem Herzen erwachte In-
tereſſe und die Sorge für einen andern Gegenſtand hatte
ihm neue Lebeskraft eiageflößt. Trotz ſeiner Schwäche
wollte er hinausgehen, Zeichen geben, Nothfeuer anzün-
den, aber die zuneymende Wuth des Sturmes vereitelte
alle ſeine Bemühungen. Die Signalfeuer verlöſchten,
ſeine eigene Stimme verhallte im Wind, kein rettender
Nachen ließ ſich auf den ſchaumig grünen berghohen
Wellen ſehen, welche die Felſen bedeckten.
Kommt, Job ſagte Jeannie, die zu ihm herauskam,
ſobald ſie ihr Töchterchen berunhigt, das weinend nach
Hauſe und zu eſſen verlangt hatte, — kommt Job, bei
dieſem Wetter keant Ihr nicht draußen bleiben. Die
Sache iſt nicht mehr zu äudern, ich muß mich darein
ergeben. — Nichtsdeſtoweniger wurden ihre Augen feucht.
Job wollte ſie beſtimmen, den vordern Theil der
Hütte für die Nacht für ſich zu nehmen, aber dieſem
Vorſchlag widerſetzte ſie ſich entſchieden und bettete Rei-
nette in der Krippe des Stalles, nachdem ſie ihr Milch
Heidelberger Volksblatt.
Mittwoch, den 26. April 1876.
9. Jahrg.
erſcheint Mittwoch und Samfag. Preis monaklich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schifgaſſe 4
ö und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten. ö ö
Der Geiger.
Ein Lebensbild aus dem Franzöſiſchen von Bentgen.
Cortſetzung.)
Die trockene, brennende Hand Jobs ſchien durch die
Berührung der ihrigen gekühlt und erfriſcht zu werden,
er fing ruhiger an zu athmen und Jeannie fand dies
nur natürlich, denn ſie hatte oft auf dieſe Art ihr kran-
kes Kind beruhigt. ö
Aber was anfangen? So oft ſie aufſtand um weg-
zugehen, wurde ſie durch eine Bewegung des Kranken.
zurückgehalten. So verſtrich eine Weile Zeit, bis das
Mädchen endlich mit ſchwerem Herzen ihren Entſchluß
faßte und hinousging.
Aber wer beſchreibt ihr Entſetzen, als ſie vor die
Thür des Hauſes trat. Das Meer war bereits im An-
zug und näßerte ſich ſo raſch, daß an ein Fortgehen
nicht zu denken war, ſobald ſie die oben erwähnte Straße
betreten hätte, würde ſie unfehlbar fortgeſchwemmt wor-
den ſein. Der regelmäßig wiederkehrende Kampf des Ele-
mentes mit den Klippen hatte begonnen, das Waſſer um-
ringte ſchon die am meiſten hervorſpringenden Felſen mit
tauſend Schwingungen, beſpielte als Vorſpiel die Füße
derſelben, ehe es zum ernſtlichen Angriff ſchritt urd von
allen Seiten zugleich Terrain gewann, wie ein Raub-
thier zuerſt mit ſeiner Beute ſpielt, ehe es ſie verzehrt.
Noch hatte das Herannahen der Fluth, don den ſandi-
den Dünen verdeckt, ſcheinbar nichts Erſchreckendes, aber
nur noch einige Secuaden und der Verwegene, der ſich
zwiſchen die noch herausguckenden Felſen gewagt, wäre
ſicher dem Untergang entgegen gegangen. — Jeannie
wußte woran ſie war. Am Ufer zuſammenzeſunken ver-
folgte ſie mit ſtierem Blick das Gebahren des treuloſen
Elrmentes, das immer mehr und mehr das Plateau ein-
engte, welches eben noch einer weiten Steppe glich. Eine
einzige Hoffnung blieb ihr und die war noch ſehr zweifel-
haft, nämlich irgend eine Barke za erſpähen. Da es aber
gerade die Zeit der Herbſtgleichen war, wo die Schiffe
den ſchützenden Hafen nicht gerne ohne Noth verlaſſen,
ſo blieb es mehr als unwahrſcheinlich, daß ſich eine in
Gehörsweite verirren ſollte. Nichtsdeſtoweniger rief ſie
aus Leibeskräften um Hülfe und Reinette ſchrie mit
durchdringender Stimme dazwiſchen. Als hätte ſich an
dieſem Tage Alles gegen das arme Mädchen verſchwo-
ren, ſo hatte ſich gegen Sonnenuntergang ein heftiger
Wind erhoben, der es ihr unmöglich machte, ihre eigene
Stimme zu verſtehen. Der Sturm wurde ſo arg, daß,
wollte ſie nicht mit ihrem Kinde weggeweht werden, ſie
abermals in der Hütte eine Zuflucht ſuchen mußte. Zu
ihrer großen Verwunderung fand Jeannie den Einſiedler
aufgeſtanden und mit einem aten zerlumpten Rock be-
kleidet. Als er nämlich nach einem kurzen Schlaf er-
wachte und ſie nicht mehr ſah, war er zweifelhaft, ob
ihre Erſcheinung Traum oder Wirklichkeit geweſen und
hatte ſein Lager verlaſſen, um ſich darüber Gewißheit
zu verſchaffen. Bei ihrem Eintritt rief er wie erleichtert
aus: So habe ich alſo nicht geträumt! —
Ohne ein Wort zu erwiedern deutete Jeannie durch
die offene Thür nach den Wellen, die ſich näher und
näher heranwälzten. —
Nun gut, ſagte Job mtt unverhehlter Freude, Ihr
ſeid ja hier beide geborgen, wartet die Ebbe ab.
Warten bis morgen? — Und was werden bis da-
hin meine Brüder ſagen? Sie werden eine Urſache mehr
haben, mich auszuzanken, und fägte ſie wie zu ſich ſelbſt
redend hinzu, indem ſie eine Taräne zerdrückte, als wenn
es nicht ſchon genug wire! ö
Seit einigen Minuten fühlte ſich Job nicht mehr
krank, weder körperlich noch geiſtig. Seine Krankheit
war überhaupt nichts Anderes als die Folge überreizter
Nerven und ſeiner ſo lange fortgeſetzten aszetiſchen Le-
bensweiſe. Das plötzlich in ſeinem Herzen erwachte In-
tereſſe und die Sorge für einen andern Gegenſtand hatte
ihm neue Lebeskraft eiageflößt. Trotz ſeiner Schwäche
wollte er hinausgehen, Zeichen geben, Nothfeuer anzün-
den, aber die zuneymende Wuth des Sturmes vereitelte
alle ſeine Bemühungen. Die Signalfeuer verlöſchten,
ſeine eigene Stimme verhallte im Wind, kein rettender
Nachen ließ ſich auf den ſchaumig grünen berghohen
Wellen ſehen, welche die Felſen bedeckten.
Kommt, Job ſagte Jeannie, die zu ihm herauskam,
ſobald ſie ihr Töchterchen berunhigt, das weinend nach
Hauſe und zu eſſen verlangt hatte, — kommt Job, bei
dieſem Wetter keant Ihr nicht draußen bleiben. Die
Sache iſt nicht mehr zu äudern, ich muß mich darein
ergeben. — Nichtsdeſtoweniger wurden ihre Augen feucht.
Job wollte ſie beſtimmen, den vordern Theil der
Hütte für die Nacht für ſich zu nehmen, aber dieſem
Vorſchlag widerſetzte ſie ſich entſchieden und bettete Rei-
nette in der Krippe des Stalles, nachdem ſie ihr Milch