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Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

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$ Nr. 70 - Nr. 77 (2. September - 29. September)
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Heidelberger Vollksblatt.

Samſtag, den 23. September 1876.

9. Jahrg.

erſcheint Mittwoch und Samſtatz. Preis monatlich 36 Pf (Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4

und bei den Trägern. Auswärts bei den Landbsten und Voſtanſtalten.

Der Letzte ſeines Stammes.
Geſellſchaftliches Nachtſtück von Otto Mo ſer.
(Schluß.)

Der Brief enthielt nur die wenigen Worte: „Johann
Turgas, Dein Vater und Dein Bruder ſind Beide binnen
drei Tagen an einem hitzigen Fieber geſtorben. Iitzt biſt
Du der Meiſter von Zürich! Thue was deines Stam-
mes Amt und Vflicht iſt.“
Die ganze Nacht ſaß der Unglückliche und ſtierte mit
wilden Blicken vor ſich hin. ö
„Sie fahre denn wosl, du ſüße Lebeusboſſnung, für
immer!“ ſtö zute er. „Noch brennt der Verlobnuskaß
dieſes engelgleichen Weſens auf meinen Lippen, da öff net
ſich ſchon die Höle, um mein Daſein zu vernichten. Der
Henker von Zürich — welch ein gräßlicher Ttel für den
geehrten Arzt, far den Bräutigam der liebli hen Wal-
purgis, des gefeierten Edelfräaleins. Dünkt mir doch,
als ftiegen aus dieſem Kaſten mit den Richtſchwertern
und der Todtenliſte, von Leichenmoder umgeben, die ge-
ſpenſtigen Männ er und Frauen empor, die unter den Strei-
chen dieſer Henkermeſſer verbluteten, als griasten ſte mich an
mit boshafter Freude, daß der letzte Sproß des Heak er-
ſtammes, welcher ihnen die Häupter avſchlug, zu ewiger
Qaal verurth tilt iſt Wie ſie da aufgeflnzt ſtehen die
Geſpenſter in blutdeſpritzten Armen ſünderkleidern uad die
gräulichen Larven der Gehenkten und unter Folterqualen
Geflocbenen! Uad ich bin auserleſen, dieſe gräßliche Liſte
zu bereichern, ich, der letzte Sproß di ſes ſeit Jahehun-
derten verfluchten Stamm s, der nim nermehr von dem
blutbenetzten Boden, auf dem er wurzelt, ſich verpflanzen
läßt! — Lebe wohl, du holde Frühliagspracht meines
nehr! — dem Henker von Zärich blüht keine Blum:

Erſt als die Strahlen der jungen Morgenſonne in
ſein Zimmer fielen, erwachte der Unglücklich aus ſeinem
düſteren Hinbrüten. Er durchlief verſchiedene Schrijt-
ſtücke, die in rem nuheimlichen Kaſten lagen, uad packte
dann Alles ſorgfältig zuſammen. Als dies geſchhen war,
ſchien er ſeine Faſſung gänzlich wieder gewonnen zu haben.
Nachdem er eigen Koffer gepackt, ſchrieb er einen Brlef,
weckte ſeinen Diener und ſchickte ihn nach Extrapoſt. Und
als der Wagen vor der Hausflur hielt, als der inhalt-
ſchwere Kaſten und der Loffer aufgepackt waren, da warf

dens geweſen.

der unglückliche Mann noch einen langen Blick auf das

trauliche Gemach, welches der Zeuge ſeines ſtillen Frie-
Er ſtieg in den Wagen, und als dieſer
unter luſtigem Horngeſchmetter des Poſtillons an des
Majors Hanſe vorüber rolte, ſchaute er mit Thränen
in den Augen hinauf nach den Fenſtern. Aber droben

war wohl noch Niemand wach — träumwt: vielleicht oie
Geliebte ſeines Hrzens von ihm, der erſt vor wenigen
Stunden mit ihr das Wort ewiger Treue getauſcht! Er
ſank in den Wigen zarück und weinte bitterlich.
Walvurzis vernahm di: Töne des Poſthorns, hörte
das Raſſeln des dwoneilend n Wagens — ſie ahnte nicht,
daß ſie in dieſem Augenblick das Theuerſte aaf Erden
verlor! ö ö
Schon zeitig hatte Walparzis ihr jangfränliches La-
ger verlaͤſſen, auf dem ſie, wenn aach wenig ſchlu mmerad,
die ſchönſte Träume geträumt von beſeligender Zukanft.
Sie öffaete das Fenſter und athm ꝛte die würzige Fůh-
lingstuft und vom Strome herüber tönte die Sonntags-
glocken und in den Bäumen zwuſcherten die Vözel den
Morgengraß. Da wallte das Herz des Mädchens auf
in ianigem Dank zefühl; gegen die All nacht, welche ihres
Herzens gehbeimſte Wünſche ſo beſeligen) erfällt, und ſie
bat in andächtigen Gebet um Kraft, dieſ ꝛs Glück zu er-
tragen. Sie ahnte nicht wie ein finſterer Geiſt die Blu-
menk etten zerriſſen, und ihr dafür Dornen gewunden hatte.
Der Gelievte hatte verſprochen, frühzeitig zu kommen
— aber er kam nicht! Anſtatt ſeiner erſchiin der Diener
und überbrachte einen von Thrä ꝛen halbvrwiſchten Brief.
Walpurgis erſchrak. Wes war geſchehen? Hatte man
ihn zu einem Krankn geholt? ö
Mit zi'ternder Hand öffaete ſie das Schreiben und
las ſein Asſchiedswort. Er konate es ih: jn nicht er-
ſparen, hatte nicht den Matz, ſie noch ein nal zu ſeh w,
dem Vater das ſchreckliche Geheimaiß zu eutdecken. —
Dachte er nicht daran, das ein ſolcher Wetter ir ahl aus
heiterem Himmel dieſe zarte Blume zerſchmettern mußte?
Walpurgis las die wenigen Worte: „Lid wohl auf rwig
— ich bin Deiner nicht wͤürdig und verberge mich, wo
kein Auge der Lebe mir jzmals wieder lächein wird!,
Sie ſank ohnmächtig zur Erd. Aus der Seligkeit
hinabgeſtürzt in das tieftte Elend, ein Opfer unſäglichen
Jammers erlag ſi: dem tödtlichen Schlage des Shickſals.
Alle Forſchungen nach dem Virſchwundenen blieben
vergeblich. Walpurgis beweinte anfän jlich dm Verluſt

des Geliebten, aber bald warde ſie ruhig. Der Glan z
 
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