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Heidelberger Volksblatt (9) — 1876

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Nr. 1- Nr. 8 (5. Januar - 29. Januar)
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38

eidelberger

Nr. 5.

Mitttwoch, den 19.

Januar 1876. 9. Johrg.

erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Aus dunkler Zeit.
Sittenbild von Marie von Roskowska.

(Fortſetzung.)

„Lieber Verwandter — leiblicher Bruder!“ ent-
ſchlüpfte es der Frau. ihr ſelber unbewußt. Sie ſenkte
den Kopf in die Hand. ö
„Ich weiß freilich, jetzt ziemt ſich die alte Trau-
lichkeit weder für ihn noch für mich. Aber mein Ver-
trauen zu ihm iſt und bleibt das alte. Und Du könn-
teſt immerhin auch Vertrauen haben, Vertrauen zu ihm,
wie zu mir, Mutter, die Furcht, es werde jemals et-
was geſchehen, das nicht vor dem Auge Gottes und
der ganzen Welt beſtehen kann, iſt durchaus überflüſſig.
Er wünſcht mir durch doppelte Freundlichkeit die Herb-
heit Engelbrechta's zu vergüten. Ebenſo die alte Frau
Bürgermeiſterin. Ich habe die würdige Frau freilich
auch ſehr lieb!“ Tiefes Gefühl und ein wehmüthiger
Vorwurf bebte in ihrer Stimme.
Frau Kerbelin ſtand auf und ſprach gepreßt: „Du
kannſt ja zu ihr gehen, gleich morgen — nach der Pre-
digt. Gott verhüte, daß ich Dir auch Das rauben
ſollte, die zu ſehen —“. Sie mußte innehalten und
Athem ſchöpfen, ehe ſie hinzuſetzen konnte: „Die Du
lieb haſt.“
„Ja, ich habe die alte Frau ſehr lieb! Wie gut
war ſie immer gegen mich, wie viel danke ich ihr! Und
wie gut, wie liebreich iſt ſie gegen Jeden!“
„Das Mädchen haſſeſt Du freilich — darfſt es mit
Recht haſſen.“
VO, Du weißt es wohl, daß ich Engelbrechta von
ganzem Herzen liebe. Ich freue mich im Stillen ſo
ſehr auf die Ankunft ihres Vaters, da ſie es mir ja
nicht geſtattet, ihr mein Mitgefühl zu äußern.“ Benigna
ſtand gleichfalls auf und umfaßte zärtlich die Mutter.
„Ich fühle es mit Dir, wie die Ankunft des Herrn von
Vohtal die alten Wunden ſchmerzlich aufreißt! — Ich
bin ſogar ſo ſchlecht, ſo ſelbſtſüchtig, daß ich oft voll
Sehnſucht denke: wenn es mein — unſer Vater wäre,
der kommen ſoll. Niemals habe ich Engelbrechta um
Etwas beneidet, jetzt möchte ich ſie beneiden. Wie ſchön
muß es ſein, einen Vater zu haben! Doch auch ſo
freue ich mich, daß er nun endlich kommt. Wie oft
habe ich ſeiner gedacht! Immer, wenn ich mich meines
Vaters erinnerte. Vater! welch köſtlicher Name! Der

ihn trägt, muß gut und ehrwürdig ſein! Nicht wahr?
Du kennſt ihn ja.“
Starr, einer Bildſäule gleich, hatte Frau Kerbelin
es geſchehen laſſen, daß das Mädchen ſich zärtlich lieb-
koſend an ſie ſchmiegte. Lebhaft trat es dabei hervor,
daß zwiſchen Mutter und Tochter nicht die mindeſte
Arhnlichkeit herrſchte. Jene hager, mittelgroß und ſtark.
knochig, mit einem Geſicht, das einſt rund geweſen ſein
mochte, doch jetzt, trotz ſeiner Magerkeit, breit war;
dieſe groß, ſchlank, jede Bewegung anmuthig das ovale
Geſicht fein geſchnitten, voll Adel und Lieblichkeit zu-
gleich, trotz der einfachen Kleidung, der dürftigen Um-
gebung und ihrer jungfräulichen Beſcheidenheit von
einem Hauch der Vornehmheit umwoben, an den im
Weſen der Mutter nichts gemahnte.
Die Unähnlichkeit war indeß nicht nur äußerlich
vorhanden. Der warme Herzenserguß Benigna's fand
kein Echo im Herzen der Mutter und erregte ganz an-
dere Empfindungen, als Mitgefühl. Nachdem ſie bis-
her unbeweglich verharrt, ſtieß ſie das Mädchen bei deſſen
letzten Worten rauh, faſt gewaltſam von ſich.
Thränen ſtiegen in Benigna's Augen. Sie bereute
lebhaft, die Mutter verletzt zu haben. „Vergieb die
unbedachte Rede!“ bat ſie demüthig. „Ich beneide
Engelbrechta wahrlich nicht — auch nicht um den Ve-
ſitz des Vaters. Die Aermſte hat ja keine Mutter. Und
eine Mutter iſt dem Kinde doch immer näher, viel nä-
her, als der Vater. Ich habe Dich nicht kränken wol-
len, vergieb mir!“ ö
Das Weſen der Frau verwandelte ſich abermals in
jäher, überraſchender Weiſe. In krampfh ftes Schluch-⸗
zen ausbrechend, ſank ſie in Benigna's Arme. „Nicht
an Dir iſt's, um Vergebung zu bitten! An mir —
an mir!“ Und ſie ergriff, ehe das Mädchen es zu fin-
den vermochte, deſſen Hand und führte ſie an ihre
Lippen.
Beſtürzt ſchaute Benigna ſie an.
den Verſtand der Mutter.
Dieſe ſuchte ſich gewaltſam zuſammenzuraffen. „Ich
bin Dir nicht immer die gütige, zärtliche Mutter ge-
weſen, die Du verdienteſt“, ſtammelte ſie. „Aber ich
— oh, ich — leide ſo ſehr.“
„Wir wollen den Stadt-Phyſikus fragen, Du biſt
ernſtlich krank.“
Sie ſchüttelte mit finſterem Stirnrunzeln den Kopf.
„Kein Doktor kann mir helfen. Bete — bete für mich.
Ich verdiene es freilich nicht“, fügte ſie faſt tonlos hin-

Ihr bangte um

zu und brach wieder in Schluchzen aus.
 
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