geidelberger Volksblatt.
Nr. G6.
Samſtag, den 19. Auguſt 1876.
9. Zhrd.
Erſcheint Nittwoch und Sanſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleg er, Schiffzaffe 4
ö ö und bei den Trägern. Auswärts bei den Zandboten und Poſtanſtalten.
Die Präſideutin.
Kriminalgeſchichte von J. D. H. Temme.
(Fortſetzung.)
Auf ſchloß Romnike hatte ſich nichts verändert ſeit
der Kataſtrophe des vergangenen Frühlinzs. Die Genera-
lin lebte den einen Tag wie den andern, ohne daß ihr
apathiſcher Zuſtand nur auf einen Moment unterbrochen
wurde. Ihr Leben war ein Vegetiren. Ihr Körper
ſtärkte, ja entwickelte ſich wunderbar dabei; ſte wurde
ſchöuer, als ſie je vorher geweſen war. Aber es war
eine Schönheit wie ihr Leben; der Geiſt fehlte ihr; das
Auge war todt, und wenn ſie, wie ſo häufig, ohne Be-
wegung vaſaß, ſo glaubte man eine ſchöne Statue zu
ſehen. Von jener entſetzlichen Eindrucke hatte ſie jede
Erinnerung verloren. Man mußte es weizſtens glau-
beu. Nie ſprach ſie davon; nie wies nur eine Bewegung,
ein Zug ihres Geſichts darauf hig, daß eine Ahnung
des Geſchehenen in ihr lebe, jemals in ihrem Janern
werde aufwachen köanen. Die Frau Erhardt wagte auch
nicht die entferateſte Andeutung, die eine Erinnerung in
der Bruſt der Uaglücklichen hätte her vorufen können. Die
Frau mußte vielmehr mit einem geheimen Schauder an
den Augendlick denken, da der eutflohene Geiſt der Armen
zurückkehren werde. *
Der Wachtmeiſter Taudien war von ſeiner Wunde
längſt geheirt; er war wieder ganz der kräftige Mann;
er war aber auch noch immer der finſtere verſchloſſene
Mann. Das Kriminalgericht hatte iyn mehrere Male
vernehmen wollen. Die Beamten waren nach Schloß
Romnike herausgekommen, in der Erwartung, an Ort
und Stelle der Ereigniſſe werde er um ſo eher berelt
ſein, über dieſe Auskuaſt zu geben, werde ſeine Ausſage
um ſo vollſtändiger und verſtändlicher werden. Er wiſſe
von nichts, er würde nichts ſagen; das war immer und
immer wieder ſeine Aatwort. ö
Die Frau Erhardt hatte ihn ig der Mordnacht vor
der Thür des Generals geſehen. Zu welchem Zwecke er
dort geweſen? wurde er gefragt.
Ich weiß von nichts mehr!
Es hatte der Frau verboten, den General zu wecken,
ihr befohlen, in ihre Stube zurückzukehren. Warum er
das Eine, das An ere gethan?
Ich kann nichts darüber ſagen!
tigkeit der Menſchen.
Sie hatte nicht einmal zu ihrer Herrin gehen ſollen,
um ihres Lebens und des H ils ihrer Seele willen nicht!
Warum das Alles nicht? ö
Fragen Sie mich nicht; ich kann es Ihnen nicht ſagen.
Er war ſpäter, am Ende des Korridors, an der Ver-
bindungstzüre zwiſchen dem alten und neuen Schloſſe ver-
wundet worden, unter welchen Umſtönden?
Er wollte von dem Allen nichts wiſſen. ö ö
Es wurde ihm bemerklich gemacht, daß er ſeine Aus-
ſage veſchwören müßte, daß ſein Eidſchwur namentlich
auch de Verſicherung enthalte, wiſſeutlich nichts verſchwie-
gen zu haben; wie er mit einen Meineide werde vor
Gott treten köanen?
Da funkelten dem alten Manne die Augen.
Ja, ſagte er, vor den lieben Gott werde ich treten
und ihm werde ich Alles off nubaren, und er wird mir
Recht geben, denn ſeine Gerechtigkit iſt nicht die Gerech-
Glauben Ste an Gott? glaubte darauf der Richter
ihn fragen zu müſſen. ö
Und der alte Soldat fragte zurück: Waren Sie ſchou
in einer Schlacht, Herr Richrer? ö ö ö
Nein; aher wozu die Frage?
Dann kennen Ste Gott nicht! Sehen Sie, in der
Schlacht dachte ich auch nicht an ihn; es gab zu vi⸗l
Anderes zu thun, und wenn man an ihn denken ſoll, muß
es ſtill um Eigen ſein. Aber wenn es vorbei wzr, weun
ich dann in der Nacht auf der naſſen Erde lag, an dem
Halſe m ines Pferdes, um mich zu erwärmen daun Herr,
kamen die Gedanken an Gott, und wahrhaftig nicht blos
des Dankes für die Er zaltung meines Lebens; denn was
war mein Leben geger alle die Taaſenden, die ich hatte
fallen ſehen. —
Doch, das gehört ja nicht hierher. Aber vor Gott
kann ich treten, Herr Richter. ö ö
Sie frag'en ihn nicht weiter.
Auch die Frau Erhard wollte ihn einmal fragen. Sie
hatte es laage nicht gewagt. Zuletzt nahm ſie ſich den
Muth. Sie hatte dieſelben Fragen, wie das Gericht.
Warum duefte ich nicht zu dem Herrn, nicht zu der
Herrin? ö ‚
Für ſie hatte er die einfache Antwort: Sie haben
Ihr Seelenheil bewahrt, Frau Erhard! —*
Sie fragte gleichfalls nicht weiter.
Zwei andere Umſtände waren noch auffallend.
Der alte Wachtmeiſter hatte ſeit der Mordnacht nie
Nr. G6.
Samſtag, den 19. Auguſt 1876.
9. Zhrd.
Erſcheint Nittwoch und Sanſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleg er, Schiffzaffe 4
ö ö und bei den Trägern. Auswärts bei den Zandboten und Poſtanſtalten.
Die Präſideutin.
Kriminalgeſchichte von J. D. H. Temme.
(Fortſetzung.)
Auf ſchloß Romnike hatte ſich nichts verändert ſeit
der Kataſtrophe des vergangenen Frühlinzs. Die Genera-
lin lebte den einen Tag wie den andern, ohne daß ihr
apathiſcher Zuſtand nur auf einen Moment unterbrochen
wurde. Ihr Leben war ein Vegetiren. Ihr Körper
ſtärkte, ja entwickelte ſich wunderbar dabei; ſte wurde
ſchöuer, als ſie je vorher geweſen war. Aber es war
eine Schönheit wie ihr Leben; der Geiſt fehlte ihr; das
Auge war todt, und wenn ſie, wie ſo häufig, ohne Be-
wegung vaſaß, ſo glaubte man eine ſchöne Statue zu
ſehen. Von jener entſetzlichen Eindrucke hatte ſie jede
Erinnerung verloren. Man mußte es weizſtens glau-
beu. Nie ſprach ſie davon; nie wies nur eine Bewegung,
ein Zug ihres Geſichts darauf hig, daß eine Ahnung
des Geſchehenen in ihr lebe, jemals in ihrem Janern
werde aufwachen köanen. Die Frau Erhardt wagte auch
nicht die entferateſte Andeutung, die eine Erinnerung in
der Bruſt der Uaglücklichen hätte her vorufen können. Die
Frau mußte vielmehr mit einem geheimen Schauder an
den Augendlick denken, da der eutflohene Geiſt der Armen
zurückkehren werde. *
Der Wachtmeiſter Taudien war von ſeiner Wunde
längſt geheirt; er war wieder ganz der kräftige Mann;
er war aber auch noch immer der finſtere verſchloſſene
Mann. Das Kriminalgericht hatte iyn mehrere Male
vernehmen wollen. Die Beamten waren nach Schloß
Romnike herausgekommen, in der Erwartung, an Ort
und Stelle der Ereigniſſe werde er um ſo eher berelt
ſein, über dieſe Auskuaſt zu geben, werde ſeine Ausſage
um ſo vollſtändiger und verſtändlicher werden. Er wiſſe
von nichts, er würde nichts ſagen; das war immer und
immer wieder ſeine Aatwort. ö
Die Frau Erhardt hatte ihn ig der Mordnacht vor
der Thür des Generals geſehen. Zu welchem Zwecke er
dort geweſen? wurde er gefragt.
Ich weiß von nichts mehr!
Es hatte der Frau verboten, den General zu wecken,
ihr befohlen, in ihre Stube zurückzukehren. Warum er
das Eine, das An ere gethan?
Ich kann nichts darüber ſagen!
tigkeit der Menſchen.
Sie hatte nicht einmal zu ihrer Herrin gehen ſollen,
um ihres Lebens und des H ils ihrer Seele willen nicht!
Warum das Alles nicht? ö
Fragen Sie mich nicht; ich kann es Ihnen nicht ſagen.
Er war ſpäter, am Ende des Korridors, an der Ver-
bindungstzüre zwiſchen dem alten und neuen Schloſſe ver-
wundet worden, unter welchen Umſtönden?
Er wollte von dem Allen nichts wiſſen. ö ö
Es wurde ihm bemerklich gemacht, daß er ſeine Aus-
ſage veſchwören müßte, daß ſein Eidſchwur namentlich
auch de Verſicherung enthalte, wiſſeutlich nichts verſchwie-
gen zu haben; wie er mit einen Meineide werde vor
Gott treten köanen?
Da funkelten dem alten Manne die Augen.
Ja, ſagte er, vor den lieben Gott werde ich treten
und ihm werde ich Alles off nubaren, und er wird mir
Recht geben, denn ſeine Gerechtigkit iſt nicht die Gerech-
Glauben Ste an Gott? glaubte darauf der Richter
ihn fragen zu müſſen. ö
Und der alte Soldat fragte zurück: Waren Sie ſchou
in einer Schlacht, Herr Richrer? ö ö ö
Nein; aher wozu die Frage?
Dann kennen Ste Gott nicht! Sehen Sie, in der
Schlacht dachte ich auch nicht an ihn; es gab zu vi⸗l
Anderes zu thun, und wenn man an ihn denken ſoll, muß
es ſtill um Eigen ſein. Aber wenn es vorbei wzr, weun
ich dann in der Nacht auf der naſſen Erde lag, an dem
Halſe m ines Pferdes, um mich zu erwärmen daun Herr,
kamen die Gedanken an Gott, und wahrhaftig nicht blos
des Dankes für die Er zaltung meines Lebens; denn was
war mein Leben geger alle die Taaſenden, die ich hatte
fallen ſehen. —
Doch, das gehört ja nicht hierher. Aber vor Gott
kann ich treten, Herr Richter. ö ö
Sie frag'en ihn nicht weiter.
Auch die Frau Erhard wollte ihn einmal fragen. Sie
hatte es laage nicht gewagt. Zuletzt nahm ſie ſich den
Muth. Sie hatte dieſelben Fragen, wie das Gericht.
Warum duefte ich nicht zu dem Herrn, nicht zu der
Herrin? ö ‚
Für ſie hatte er die einfache Antwort: Sie haben
Ihr Seelenheil bewahrt, Frau Erhard! —*
Sie fragte gleichfalls nicht weiter.
Zwei andere Umſtände waren noch auffallend.
Der alte Wachtmeiſter hatte ſeit der Mordnacht nie