heidelberger
olksblatt.
Nr. 50.
Samſtag, den 24. Juni 1876.
9. Jahrg.
erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis manatlich 36 Pf Einzelne Nummer 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei ven Trägern. Auswärts bei den Fandboten und Poſtanſtalten.
Die Praſideutin.
Kriminalgeſchichte von J. D. H. Temme.
CFortſezung.)
Zweihundert Meilen von der polniſchen Grenze ent-
ferat konnte, wer ſehen wollte, eigenthümliche Erſchei-
nungen und Anzeichen wahrnehmen. Ich ſelbſt, der
Schreiber dieſer Zeilen, erblickte ſchon im September
und October Geſchichten und Geſtalten, die aus dem
Aſyl, das ſie gefunden hatten, ſeit Jahren verſchwunden
waren. Sie waren damals weiter gegangen, nach Ame-
rika, nach anderen Welttbeilen. Sie waren Alle in der
früheren revolutionären Bewegung ihter Nation thätig
zeweſen. Im Herbſt waren ſie wieder da, einzelo, ver-
einſamt, ſtill. Man ſah ſie nur des Abends, auf ent-
fernten wenig beſuchten Promenaden. Bald waren ihrer
mehrere und immer mehrere folgten. Stets mi⸗den ſie
die Oeffentlichkeit, ſtets wichen ſte ſcheu zurück, wenn
man zufällig auf ſie traf. Als der Winter nahte, waren
ſie verſchwunden, ploͤtzlich, ſämmtlich. Wenige Wochen,
vielleicht nur Tage nachher ſtand Polen wieder in den
Flammen der Revolution, und die Zeitungen nannten
Namen an⸗ Nauen von jenen Männern, diꝛ in Ver-
borgenheit den Moment erwartet hatten, da in der Hei-
mat die Vorbereitungen zum Losſchlagen beendigt waren.
Der Aufſtand gewann Boden, machte Fortſchritte.
Daß er von der ruſſiſchen Uebermacht auch diesmal er-
drückt, wie niedergeſchlagen, vernichtet werden mußte, konn-
te den heiheſten Sympathien mit einen Volke, das für
ſeine Freiheit kämpfte, nicht entgehen. Den unglücklichen
Poler ſelber wurde es bald offenbar. Um ſo verzwfel-
ter warden ihre Anſtrengungen; um ſo muthiger kämpf-
ten fie; um ſo grauſamer wurde auf beiden Seiten der
Kampf; um ſo entfeſſelter wurden die Leidenſchofien.
Den entfeſſelten Leidenſchaften galten zuletzt alle Mittel:
offre grauſame, heimliche um ſo grauſamer. Um die
einen, wie die anderen zu organiſtren, einer Zeutrallei-
tung zu unterwerfen, hute un Anfang Mai in Warſchau
ein geheimes Revolutionsteibunal nuter dem Namen Na-
tionalregierung ſich gebildet. Die Namen der Mitglieder
dieſer Regierung wurden nicht bekannt. Zeie und Ort
ihrer Verſammlungen waren das tiefſte Geheimniß; ibre
Beſchlüſſe wurden erſt bekaant, wenn ſie vollzogen waren.
heimlich. Sie wa-
ren blutige Befehle. ö
Ihre Vollzieher erhielten den Namen Hänge er ur-
men. Der Name warde ein allgemein gefurchteter. Die
Hängegend'armen waren da wie der Dieb in der Nacht ;.
Sie waren unbedingt befolgt, ploͤtzlich,
daß ſie dageweſen ſeien, zeigten nur die Spuren, die fie
zurückließen; dieſe Spuren waren die Leichen Erhängter,
Erdolchter, Erſchoſſenen. Die heimlichen Exekutionen der
Hängegend'armen entzündeten bald eine ſtille Weth, einen
nach Blut dürſtenden Fanatismus in den unteren Schich-
ten des Volkes. E; war ſo natürlich. Wer irgend ei-
nen Feind hatte, ſah in dieſem einen Feind des Vater-
landes, einen Unterdrücker der Freiheit, wer dem Einen
ein Feind, der Nation ein Vereäther war, wurde es bald
den Nachbaren, dem genzen Dorfe. Die Rache wüt zete,
mit ihr die Habſucht, die Plünderungsluſt, die Mordluft.
Heimliche Urberfälle, bei Tage wie bei Nacht, wurden
tä zlich berichtet. ö
Von den letzen Tagen des Monat Ma!
wir hier.
Die Fran Erhard, die Zeitungen las, wußte dm
Kammerdtener Georg Einzelnheiten aus den letzten Ta-
gen zu erzhlen.
Ein vornehmer Pole, der dem ruſſiſchin Regimente
gedient hatte, war von der Nationalregierung — das
geheime Revolutionstribunal hatte die Frau ſie genannt
— zu einer hoben Geldbuße verurtheilt worden. Er
hielt ſich auf ſeinem Gute auf. Die Verurtheilung war
im Geheimen geſchehen; er hatte keine Ahnung von ihr.
Er hielt ſich außerdem auf ſeinem Gute ficher; es laz
in der Nähe einer Stadt, die von rufſiſchem Militär be-
ſetzt war. Ploͤtzlich des Nachmittags ſah man fich von
einem Haufen Hängegendarmen überfallen, ſie waren in
das Schoß eingedrungen, ohne daß ein Auge oder Ohr-
ſie waargenommen hatte. Der Fütrer des Haufens legte
dem Schloßherrn den Bef hl der Natio alregierung vor,
verlingte dir ſofortige Bezahlun! der Summen! Wo-
rauf der Befehl lautete: wenn nicht binnen einer Stunde
die Zahlung erfolgt iſt, würde der Herr Graf gehängt
werden. Der Graf war in der Gewa't der Genrarmn,
ſein Schloß war beſetzt, nicht er, nicht Einer vos ſein n⸗
Leuten konnte hinaus. Er mußte dem Zahlungsbefeble
nychlommen, aver er glaubts noch einen Retangsanter zu
haben. Er hab ſo eine große Summe nicht zu Hauſe,
berichten ‚
erklärte er; er mäſſe einen Boten an ſeinen Geſchäfts-
jaden in der Stadt ſer den, ihm das Seld zu ſchicken.
olksblatt.
Nr. 50.
Samſtag, den 24. Juni 1876.
9. Jahrg.
erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis manatlich 36 Pf Einzelne Nummer 6 Pf. Man abonnirt beim Verleger, Schiffgaſſe 4
und bei ven Trägern. Auswärts bei den Fandboten und Poſtanſtalten.
Die Praſideutin.
Kriminalgeſchichte von J. D. H. Temme.
CFortſezung.)
Zweihundert Meilen von der polniſchen Grenze ent-
ferat konnte, wer ſehen wollte, eigenthümliche Erſchei-
nungen und Anzeichen wahrnehmen. Ich ſelbſt, der
Schreiber dieſer Zeilen, erblickte ſchon im September
und October Geſchichten und Geſtalten, die aus dem
Aſyl, das ſie gefunden hatten, ſeit Jahren verſchwunden
waren. Sie waren damals weiter gegangen, nach Ame-
rika, nach anderen Welttbeilen. Sie waren Alle in der
früheren revolutionären Bewegung ihter Nation thätig
zeweſen. Im Herbſt waren ſie wieder da, einzelo, ver-
einſamt, ſtill. Man ſah ſie nur des Abends, auf ent-
fernten wenig beſuchten Promenaden. Bald waren ihrer
mehrere und immer mehrere folgten. Stets mi⸗den ſie
die Oeffentlichkeit, ſtets wichen ſte ſcheu zurück, wenn
man zufällig auf ſie traf. Als der Winter nahte, waren
ſie verſchwunden, ploͤtzlich, ſämmtlich. Wenige Wochen,
vielleicht nur Tage nachher ſtand Polen wieder in den
Flammen der Revolution, und die Zeitungen nannten
Namen an⸗ Nauen von jenen Männern, diꝛ in Ver-
borgenheit den Moment erwartet hatten, da in der Hei-
mat die Vorbereitungen zum Losſchlagen beendigt waren.
Der Aufſtand gewann Boden, machte Fortſchritte.
Daß er von der ruſſiſchen Uebermacht auch diesmal er-
drückt, wie niedergeſchlagen, vernichtet werden mußte, konn-
te den heiheſten Sympathien mit einen Volke, das für
ſeine Freiheit kämpfte, nicht entgehen. Den unglücklichen
Poler ſelber wurde es bald offenbar. Um ſo verzwfel-
ter warden ihre Anſtrengungen; um ſo muthiger kämpf-
ten fie; um ſo grauſamer wurde auf beiden Seiten der
Kampf; um ſo entfeſſelter wurden die Leidenſchofien.
Den entfeſſelten Leidenſchaften galten zuletzt alle Mittel:
offre grauſame, heimliche um ſo grauſamer. Um die
einen, wie die anderen zu organiſtren, einer Zeutrallei-
tung zu unterwerfen, hute un Anfang Mai in Warſchau
ein geheimes Revolutionsteibunal nuter dem Namen Na-
tionalregierung ſich gebildet. Die Namen der Mitglieder
dieſer Regierung wurden nicht bekannt. Zeie und Ort
ihrer Verſammlungen waren das tiefſte Geheimniß; ibre
Beſchlüſſe wurden erſt bekaant, wenn ſie vollzogen waren.
heimlich. Sie wa-
ren blutige Befehle. ö
Ihre Vollzieher erhielten den Namen Hänge er ur-
men. Der Name warde ein allgemein gefurchteter. Die
Hängegend'armen waren da wie der Dieb in der Nacht ;.
Sie waren unbedingt befolgt, ploͤtzlich,
daß ſie dageweſen ſeien, zeigten nur die Spuren, die fie
zurückließen; dieſe Spuren waren die Leichen Erhängter,
Erdolchter, Erſchoſſenen. Die heimlichen Exekutionen der
Hängegend'armen entzündeten bald eine ſtille Weth, einen
nach Blut dürſtenden Fanatismus in den unteren Schich-
ten des Volkes. E; war ſo natürlich. Wer irgend ei-
nen Feind hatte, ſah in dieſem einen Feind des Vater-
landes, einen Unterdrücker der Freiheit, wer dem Einen
ein Feind, der Nation ein Vereäther war, wurde es bald
den Nachbaren, dem genzen Dorfe. Die Rache wüt zete,
mit ihr die Habſucht, die Plünderungsluſt, die Mordluft.
Heimliche Urberfälle, bei Tage wie bei Nacht, wurden
tä zlich berichtet. ö
Von den letzen Tagen des Monat Ma!
wir hier.
Die Fran Erhard, die Zeitungen las, wußte dm
Kammerdtener Georg Einzelnheiten aus den letzten Ta-
gen zu erzhlen.
Ein vornehmer Pole, der dem ruſſiſchin Regimente
gedient hatte, war von der Nationalregierung — das
geheime Revolutionstribunal hatte die Frau ſie genannt
— zu einer hoben Geldbuße verurtheilt worden. Er
hielt ſich auf ſeinem Gute auf. Die Verurtheilung war
im Geheimen geſchehen; er hatte keine Ahnung von ihr.
Er hielt ſich außerdem auf ſeinem Gute ficher; es laz
in der Nähe einer Stadt, die von rufſiſchem Militär be-
ſetzt war. Ploͤtzlich des Nachmittags ſah man fich von
einem Haufen Hängegendarmen überfallen, ſie waren in
das Schoß eingedrungen, ohne daß ein Auge oder Ohr-
ſie waargenommen hatte. Der Fütrer des Haufens legte
dem Schloßherrn den Bef hl der Natio alregierung vor,
verlingte dir ſofortige Bezahlun! der Summen! Wo-
rauf der Befehl lautete: wenn nicht binnen einer Stunde
die Zahlung erfolgt iſt, würde der Herr Graf gehängt
werden. Der Graf war in der Gewa't der Genrarmn,
ſein Schloß war beſetzt, nicht er, nicht Einer vos ſein n⸗
Leuten konnte hinaus. Er mußte dem Zahlungsbefeble
nychlommen, aver er glaubts noch einen Retangsanter zu
haben. Er hab ſo eine große Summe nicht zu Hauſe,
berichten ‚
erklärte er; er mäſſe einen Boten an ſeinen Geſchäfts-
jaden in der Stadt ſer den, ihm das Seld zu ſchicken.