9. Jahrg.
Nr. 38.
erſcheint Mittwoch und Sam ſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleg er, Schiffgaſſe 4
* ö und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Voſtanſtalten. ö
2
Der Fiſcher von Leeg.
Wer jemals Jerſey beſucht hat, der iſt ſicherlich
auch nach der Bucht von Lerq, einer der maleriſchſten
dieſer verzauberten Inſel, geführt worden. Rings um-
her, wohin das Auge blickt, Nichts als zerklüftete Klip-
pen, ſpitze Felſenriffe, gegen welche die Brandung toſend
ſchäumt. Wehe dem Fahrzeug, das bei Nacht vom Nord-
weſtſturm an dieſe Küſte getrieben wird; ſein Unter-
gang iſt unabwendbar, denn das Steuer vermaß bier
Nichts mehr und knirſchend rennt der Kiel auf den
granitnen Untergrund der felſigen Ufer auf. Den ein-
zigen Zufluchtsort bietet den gefährdeten Schiffen an
dieſer Seite die Bucht Lecg, wenn fie nämlich ſo glück-
lich geweſen ſind, die zahlreichen Klippen, die in dieſen
Gewäſſern vorhanden ſind, ohne Unfall zu umſchiffen.
Für gewöhnlich herbergt die Bucht nur einige Fiſcher-
Ani deren Beſitzer eutlang des Strandes ihre Hütten
aben. ö
Es war im November des Jehres 187 . . Ein ent-
ſetzlicher Orkan war über dem Canal eutfeſſelt und deut-
lich bemerkte man an der Küſte von Jerſey die Neth-
ſignale eines Fahrzeugs, das die tobenden ſchaumgekrön-
ten Wogen gegen die Pater⸗Noſter⸗Felſen trieben, ein
Name, der an den letzten Angſiſchrei der Seele in der
Stunde der Gefahr erinnert. Der Ver ſuch, durch den
raſenden Sturm hindurch den Unglücklichen Hülfe zu
bringen, wäre Wahnſinn geweſen, ein fruchtloſes Opfer-
des eigenen. Lebens, und ſo ſahen denn auch die Fiſcher,
welche die Alarmzeichen der dedräagten Mannſchaft aus
ihren Beyauſungen gelockt, mit ohnmächtigem Schmerz
und Grimm dem langſamen, verzweikelten Todeskunpfe
des Fahrzeugs gegen die Wuth der Elemente zu; ſchau-
rig töͤnte durch das Brauſen des Sturmes das Hülfe-
geſchrei der Strandenden; düſter zuckt es über die wetter-
harten Geſichter der Fiſcher von Lerg. Endiich tritt
einer von ihnen vor, die Bruſt von einem heroiſchen
Entſchluß geſchwellt; es iſt ein alter Mann, deſſen
Haar zwar weiß, deſſen Muskeln aber von Stahl ſind.
Er läßt ein Rettungsboot in's Meer, um den gierigen
Fluthen wenigſtens eins oder das andere ihrer Opfer
ſtreitig zu machen. Und kann er ſie richt retten, ſo hat
er es doch verſucht, und ſoll er mit ihnen untergehen,
ſo befiehlt er Gott ſeine Seele. Aber all in kann er das
Rettungs werk nicht unternehmen, er ruft einen Frei-
willigen auf, um es mit ihm zu theilen, jedoch — es
meldete ſich keiner. Nicht daß es den am Strande ver-
ſammelten Männern an Muth fehlt, aber man braucht
mehr als Muth, man braucht Herzismus, um dieſen
Kampf mit den entfeſſelten Elementen zu wagen; vor
dem ſichern Tode, der ihrer wartet, weichen auch die
Tapferſten zurück. Da löſt ſich aus den Reihen der
Männer ein Knabe, der Sohn eists Fiſchers und von
Kindesdeinen an mit Wind und Wogen vertrant. Er
trägt ſich dem Alten als Gehülfe an; ehe er aber in
das Boot ſpringt, umſchlingt er mit ſeinen Armen eine
Frau in Trauerkleidunz, die ihm zur Seite geſtanden,
und bittet mit feſter Stimme: ö
— Mutter, laß mich gehen!
Die arme Mutter war ſeit kaum ſechs Monaten
Witttze. Ihr Gatte, ein wackerer Fiſcher, war eines
Morgens in's Meer hinausgefahren, um ſeine Retzse
auszuwerfen. Als er abfuhr, war die Setz unbewegt
wie ein Spiegel, aber pötzlich erhob ſich der Sturm,
und am nächſten Tage fanden Fiſcher die Trümmer
ſetnes in Stücke gegangenen Bootes. Von ihm enideckte
nan keine Spur, vicht einm il den Leicham ſpälte die
See an's Land. Und von dieſer unglücktichen Frau er-
bat ſich der einzige Sohn in dieſem Augenblick die Er-
laubniß, der Wuth des Meeres, das vor K?rzem das
Grab ſeines Vaters geworden, trotzen zu dürſea! Ihre
von Thränen erſtickte Stimme murmelte eine Weigerung,
aber lauter klangen dte Hülferufe der untergehenden
Mannſchaft herü er, ſchneller folgten die Nothſchüſſe
anfeinander. Sie dachte daran, daß dort auch Gatten,
Väter, Söhne wären, die dem Tode in's Auze ſchauen
müßten, und ihrem eigenen Schmerz Schweigen ge-
bietend, drückte die heldenmüthige Frau ihr Kind feſt an
ſich und ſagte:
— Geh, Du mein Einziger, und ſei geſe znet;
Gott moͤge Dich heil und geſund in die Arme Deiner
unglücklichen Mutter zurückfführen!
Von den Wogen hin⸗ und hergeſcheudert, entfernte
ſich das Boot raſch vom Lande; wacker arbeiteten die
beiden braven Seeleute gegen den Sturm. Aber die arme
Mutter ſah es nicht mehr, ſie war ohnmächtig auf dem
Sande zuſammen gebrochen, und mitleidig: Nachbarn
trugen ſie in ihre Hütte. ö
Bald hörte man einen entſetzlichen Krach. Das
ſtolze Fahrzeug war auf ein vom Waſſer bedecktes Riff
aufgefahren und borſt entzwei. Man ſah es raſch in
Nr. 38.
erſcheint Mittwoch und Sam ſtag. Preis monatlich 36 Pf Einzelne Nummer à 6 Pf. Man abonnirt beim Verleg er, Schiffgaſſe 4
* ö und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Voſtanſtalten. ö
2
Der Fiſcher von Leeg.
Wer jemals Jerſey beſucht hat, der iſt ſicherlich
auch nach der Bucht von Lerq, einer der maleriſchſten
dieſer verzauberten Inſel, geführt worden. Rings um-
her, wohin das Auge blickt, Nichts als zerklüftete Klip-
pen, ſpitze Felſenriffe, gegen welche die Brandung toſend
ſchäumt. Wehe dem Fahrzeug, das bei Nacht vom Nord-
weſtſturm an dieſe Küſte getrieben wird; ſein Unter-
gang iſt unabwendbar, denn das Steuer vermaß bier
Nichts mehr und knirſchend rennt der Kiel auf den
granitnen Untergrund der felſigen Ufer auf. Den ein-
zigen Zufluchtsort bietet den gefährdeten Schiffen an
dieſer Seite die Bucht Lecg, wenn fie nämlich ſo glück-
lich geweſen ſind, die zahlreichen Klippen, die in dieſen
Gewäſſern vorhanden ſind, ohne Unfall zu umſchiffen.
Für gewöhnlich herbergt die Bucht nur einige Fiſcher-
Ani deren Beſitzer eutlang des Strandes ihre Hütten
aben. ö
Es war im November des Jehres 187 . . Ein ent-
ſetzlicher Orkan war über dem Canal eutfeſſelt und deut-
lich bemerkte man an der Küſte von Jerſey die Neth-
ſignale eines Fahrzeugs, das die tobenden ſchaumgekrön-
ten Wogen gegen die Pater⸗Noſter⸗Felſen trieben, ein
Name, der an den letzten Angſiſchrei der Seele in der
Stunde der Gefahr erinnert. Der Ver ſuch, durch den
raſenden Sturm hindurch den Unglücklichen Hülfe zu
bringen, wäre Wahnſinn geweſen, ein fruchtloſes Opfer-
des eigenen. Lebens, und ſo ſahen denn auch die Fiſcher,
welche die Alarmzeichen der dedräagten Mannſchaft aus
ihren Beyauſungen gelockt, mit ohnmächtigem Schmerz
und Grimm dem langſamen, verzweikelten Todeskunpfe
des Fahrzeugs gegen die Wuth der Elemente zu; ſchau-
rig töͤnte durch das Brauſen des Sturmes das Hülfe-
geſchrei der Strandenden; düſter zuckt es über die wetter-
harten Geſichter der Fiſcher von Lerg. Endiich tritt
einer von ihnen vor, die Bruſt von einem heroiſchen
Entſchluß geſchwellt; es iſt ein alter Mann, deſſen
Haar zwar weiß, deſſen Muskeln aber von Stahl ſind.
Er läßt ein Rettungsboot in's Meer, um den gierigen
Fluthen wenigſtens eins oder das andere ihrer Opfer
ſtreitig zu machen. Und kann er ſie richt retten, ſo hat
er es doch verſucht, und ſoll er mit ihnen untergehen,
ſo befiehlt er Gott ſeine Seele. Aber all in kann er das
Rettungs werk nicht unternehmen, er ruft einen Frei-
willigen auf, um es mit ihm zu theilen, jedoch — es
meldete ſich keiner. Nicht daß es den am Strande ver-
ſammelten Männern an Muth fehlt, aber man braucht
mehr als Muth, man braucht Herzismus, um dieſen
Kampf mit den entfeſſelten Elementen zu wagen; vor
dem ſichern Tode, der ihrer wartet, weichen auch die
Tapferſten zurück. Da löſt ſich aus den Reihen der
Männer ein Knabe, der Sohn eists Fiſchers und von
Kindesdeinen an mit Wind und Wogen vertrant. Er
trägt ſich dem Alten als Gehülfe an; ehe er aber in
das Boot ſpringt, umſchlingt er mit ſeinen Armen eine
Frau in Trauerkleidunz, die ihm zur Seite geſtanden,
und bittet mit feſter Stimme: ö
— Mutter, laß mich gehen!
Die arme Mutter war ſeit kaum ſechs Monaten
Witttze. Ihr Gatte, ein wackerer Fiſcher, war eines
Morgens in's Meer hinausgefahren, um ſeine Retzse
auszuwerfen. Als er abfuhr, war die Setz unbewegt
wie ein Spiegel, aber pötzlich erhob ſich der Sturm,
und am nächſten Tage fanden Fiſcher die Trümmer
ſetnes in Stücke gegangenen Bootes. Von ihm enideckte
nan keine Spur, vicht einm il den Leicham ſpälte die
See an's Land. Und von dieſer unglücktichen Frau er-
bat ſich der einzige Sohn in dieſem Augenblick die Er-
laubniß, der Wuth des Meeres, das vor K?rzem das
Grab ſeines Vaters geworden, trotzen zu dürſea! Ihre
von Thränen erſtickte Stimme murmelte eine Weigerung,
aber lauter klangen dte Hülferufe der untergehenden
Mannſchaft herü er, ſchneller folgten die Nothſchüſſe
anfeinander. Sie dachte daran, daß dort auch Gatten,
Väter, Söhne wären, die dem Tode in's Auze ſchauen
müßten, und ihrem eigenen Schmerz Schweigen ge-
bietend, drückte die heldenmüthige Frau ihr Kind feſt an
ſich und ſagte:
— Geh, Du mein Einziger, und ſei geſe znet;
Gott moͤge Dich heil und geſund in die Arme Deiner
unglücklichen Mutter zurückfführen!
Von den Wogen hin⸗ und hergeſcheudert, entfernte
ſich das Boot raſch vom Lande; wacker arbeiteten die
beiden braven Seeleute gegen den Sturm. Aber die arme
Mutter ſah es nicht mehr, ſie war ohnmächtig auf dem
Sande zuſammen gebrochen, und mitleidig: Nachbarn
trugen ſie in ihre Hütte. ö
Bald hörte man einen entſetzlichen Krach. Das
ſtolze Fahrzeug war auf ein vom Waſſer bedecktes Riff
aufgefahren und borſt entzwei. Man ſah es raſch in